Lieder zur Lage der Nation

■ Von Wurstbroten, libidinös motivierten Zugfahrten und der Lust am Herumsitzen: Die Popette Betancor verwandelt Banalitäten in skurrile Poesie

Worüber kann man noch Lieder schreiben und singen? Zu allem scheint es schon den passenden Song zu geben, und vor den meisten Texten wendet man sich eh mit Grausen ab – zum Glück singen inzwischen selbst die deutschen Popstars meist englisch, da lässt sich besser weghören.

Aber als Popette muß man sich schon etwas anderes einfallen lassen. „Obst- und Gemüselieder zur Lage der Nation“ – da wird man hellhörig, und auch für den Rest des Abends enttäuscht Frau S. (der Vorname bleibt ein Geheimnis) Betancor ihr Publikum nicht. Denn keine kann wie sie das alltäglich Banale ins skurril Poetische wenden, keine kann wie sie von den Sehnsüchten einer Reisenden singen, die „zum Ficken nach Andernach“ fährt, auch wenn „Frankfurt die Stadt mit den meisten Betten“ ist.

Die Popette Betancor hat sich den Damenbart abrasiert (so hießen ihr voriges Programm und ihr Roman) und für das aktuelle Liedgut ein paar neue Leitmotive gesucht: Jetzt singt und erzählt sie von Ess -waren, Intercityzügen und dem Herumsitzen. Der Abend beginnt mit einem Loblied auf das Sitzen, denn wir liegen nicht etwa (wie einige Wissenschaftler behaupten) die meiste Zeit unseres Lebens, sondern „man sitzt rum und wartet, dass was passiert“. Ein perfekter Anlass für ein Lied über die beiden bedauernswerten „Nichtsitzer“ Falco und Petra, die das ideale Paar wären, aber nicht zueinanderfinden, weil sie sich ja nie zufällig gegenübersitzen können. „Was will uns dieses Lied sagen?“, fragt die Betancor einmal selbst ins Publikum und weiß dann die Antwort auch nicht.

Dieses Herumspielen mit Bedeutungsebenen, dieses Komisch- sein ohne Pointen, das hat die Betancor von Helge Schneider gelernt, in dessen Band sie in den 80er-Jahren spielte. Die Kunstfigur der „Popette“ erfand sie vor sieben Jahren, und seitdem hat sie diese merkwürdige „Synthese aus Nichtchansonette und Antipopstar“ immer mehr perfektioniert, wie man bei ihren Auftritten im Jungen Theater alle paar Jahre wieder erleben konnte.

Inzwischen kokettiert sie nicht mehr mit ihren mangelnden äußerlichen Reizen (der Damenbart ist, wie gesagt, ab) und auch die Kalauer sind fast ganz verschwunden. Stattdessen konzentriert sie sich auf die Wunderwelt des Alltäglichen, erzählt anhand der „Erbsensuppe mit Rauchwursteinlage“, die im „Raucherbistro des Intercity“ angeboten wird, davon, wie desolat das Leben in unserer Republik ist.

Auch musikalisch steckt der Gesangsabend voller Überraschungen. Mit fast kindlicher Spielfreude hat sie Sampler und Computer entdeckt, und so bereitet sie nun dem Publikum im Club die passende Atmosphäre (Gemurmel, leises Lachen, Gläserklirren) von der Festplatte. Für fast jedes Lied hat die Betancor Soundbegleitung im Computer, mit Zuggeräuschen, Streichern, Rockarrangements oder Discorhythmen, so dass sie zwar alleine am Flügel sitzt, aber dabei zum Sound einer ganzen Band singen kann.

Das macht sie perfekt, weshalb man es ihr auch nicht mehr so ganz abnimmt, wenn sie in ihrer Mappe vergeblich nach einem Text sucht oder mitten im Gedicht so tut, als habe sie den Text vergessen. Aber der Trick wirkt, gerade weil wir nicht auf ihn hereinfallen – so doppelbödig ist das Programm von Frau Betancor. Ein schöner, bei aller Ironie auch seltsam tröstlicher Abend. Denn so verquer, romantisch und geistreich wie sie kann wohl sonst keine von einem Wurstbrot erzählen.

Wilfried Hippen

tägl. bis Samstag um 20.30 Uhr im Jungen Theater, Güterbahnhof, Tor 48. Karten gibt es unter 700 141