Mit voller Wucht

Wie kann man sich, wie kann frau sich körperlicher Angriffe erwehren? Mitarbeiter des baKum-Instituts für Selbstverteidigung in Berlin versuchen, eine Antwort zu vermitteln. Ein Besuch

von SANDRA SACHS

Szene eins: Eine Frau wartet an einer Bushaltestelle. Sie ist allein, es dämmert. Ein paar Meter entfernt von ihr ein bulliger Mann, schlampig gekleidet, unrasiert. Prüfend mustert er die Frau von der Seite, rotzt, würgt, spuckt aus. Sie wendet sich ab, zieht die Schultern hoch und macht sich noch kleiner, als sie ist. Am liebsten würde sie unsichtbar werden.

Der Kerl aber stemmt die Hände in die Hüften und latscht breitbeinig auf sie zu. „Ey, Kleine, so alleine, ey!“ Sie verharrt wie gelähmt. „Ey, komm her, du Schlampe!“ Und legt, während er dies sagt, seine Hand auf ihre Schulter. Zaghaft dreht sie sich um, versucht, die Hand abzuschütteln. Aber er packt sie, stößt sie zu Boden und kniet schließlich auf seinem Opfer.

Täter und Opfer erheben sich langsam – und blicken in 36 erschrockene Augen. Man könnte die berühmte Stecknadel fallen hören. „Was hat die Frau eurer Meinung nach falsch gemacht?“, fragt der vermeintliche Täter in die Runde. „Na ja, sie hat sich abgewendet“ – „Sie hat nicht rechtzeitig reagiert oder sich gewehrt“ – „Sie hat Angst gezeigt“, sprudeln die Antworten hervor. Udo Kumpe, eben noch bedrohlicher Gewalttäter, jetzt wieder friedlicher Seminarleiter, nickt zufrieden. Sein Gewaltpräventionskurs ist gut gelaufen, die Teilnehmerinnen haben die wichtigste Grundregel begriffen: Angst bestätigt den Täter, provoziert ihn, lädt ihn ein zur Gewalt.

Aber ist es besser, wegzurennen, zu schreien oder gar zu schlagen? In den letzten drei Stunden haben wir versucht, eine Antwort zu finden und in die Praxis umzusetzen. Wir, das sind achtzehn Krankenschwestern kurz vor Ausbildungsabschluss, die beiden Seminarleiter Udo Kumpe und Sylvia Griepentrog – und ich. Der Gewaltpräventionskurs ist ein freiwillig gewählter Bestandteil der Krankenschwesternausbildung, eine Art Workshop. „Durch den Schichtdienst bedingt, werden Krankenschwestern oft Opfer von sexuellen Belästigungen oder auch Vergewaltigungen. In dem Seminar wollen wir ihnen Möglichkeiten aufzeigen und trainieren, wie sie sich im Notfall verhalten sollen“, erklärt Kumpe, der vor sieben Jahren das baKum-Institut für Selbstverteidigung gegründet hat.

Lektion eins: „Schreien schockt und erregt Aufmerksamkeit“, sagt Kumpe. Gellende Schreie durchdringen den Übungsraum. „Lauter!“, fordert er. Wir schreien. „Noch lauter!“ Und schreien lauter. Kumpe ist zufrieden. Aber was würde sein, wenn ich allein bin? Was, wenn die Leute einfach wegschauen, sich nicht einmischen wollen?

„Wenn jemand in der Nähe ist, dann bittet ihn oder sie direkt um Hilfe. Wenn ihr allein seid, dann nützt die Schocksekunde zur Flucht“, rät Kumpes Mitarbeiterin. Aber wohin fliehen? „Niemals in Parks oder Hauseingänge. Lauft dorthin, wo Menschen sind, oder klingelt beim nächstbesten Haus, egal wie spät es ist“, betont sie.

Szene zwei: Eine Frau wartet an einer Bushaltestelle, allein, abends. Ein eher ungehobelt wirkender Mann macht sie grob an. Sie strafft ihre Schultern, wendet sich ihm zu und blickt ihm gerade in die Augen. „Ich finde Ihr Verhalten unmöglich. Das muss ich mir nicht gefallen lassen“: Sie betont ruhig, aber bestimmt jedes einzelne Wort. Der Kerl kommt weiter auf sie zu. „Bleiben Sie bitte stehen!“ Er kommt näher. „Bleiben Sie stehen!!“ Noch näher. „Bleib stehen!!! Halt!!!!“ Mit jeder Wiederholung hebt sie ihre Stimme bis zum Schrei, nimmt ihre Hände abwehrend in Schulterhöhe, angriffsbereit. Er wendet sich ab und verschwindet.

Lektion zwei: „Sagt deutlich Nein. Verwendet dabei auch eure Körpersprache“, sagt Udo Kumpe. Wir bilden Zweiergruppen. Meine Partnerin bewegt sich aus einem Abstand von zirka drei Metern auf mich zu. Ich strecke beide Hände abwehrend nach vorne: „Bleib stehen. Halt“, sage ich. Ohne Wirkung, sie ist längst in meine Sicherheitszone, normalerweise eine Armlänge vom Körper weg, eingedrungen, unsere Fußspitzen berühren sich fast.

„Trete selbstbewusst auf, blicke ihr in die Augen und sage noch lauter Nein, schreie, wenn es nicht anders geht“, rät Kumpe. Also noch mal den Ernstfall geübt. Als uns nur noch eine Armlänge trennt, schreie ich schrill. Sie schreckt zurück. Gewonnen. Jetzt schnell wegrennen – oder angreifen.

Apropos angreifen. Sylvia Griepentrog schüttelt den Inhalt einer Handtasche auf den Boden: Nagelfeile, Kugelschreiber, Schlüssel, Haarspray. „Alles wunderbare Waffen, von denen man eigentlich immer eine zufällig dabeihat und die ideale Alternativen zu Tränengas oder Butterflymessern sind“, sagt sie. Auch die Kriminalpolizei warnt vor dem Gebrauch gekaufter, legaler Waffen, die in der Hektik des Ernstfalls oft mehr schaden als nützen. „Tränengas kann zum Beispiel im Fahrstuhl, im Auto, eigentlich in allen geschlossenen Räumen nicht verwendet werden, weil man selbst einen Teil davon abbekommen würde“, erklärt Kumpe. Glaubt man den Statistiken, dann ereignen sich die meisten Übergriffe in vertrauter Umgebung, denn meist kennen sich Täter und Opfer.

Szene drei: Eine Frau wartet an einer Bushaltestelle, allein in der Dämmerung. Ein massiger Mann pöbelt sie an. Die Frau wendet sich ihm zu, steht kerzengerade, blickt ihm fest in die Augen. „Das muss ich mir nicht gefallen lassen. Ich finde Ihr Verhalten unmöglich“, sagt sie deutlich und bestimmt. Er reagiert nicht und beginnt, sich ihr weiter zu nähern. Sie fordert ihn auf, stehen zu bleiben, immer wieder sagt sie das, hebt ihre Stimme bis zum Schreien.

Die abwehrend nach vorne gestreckten, zu Fäusten geballten Hände können ihn nicht aufhalten, er umgreift ihr Handgelenk. Blitzschnell stößt sie ihr Knie mit voller Wucht in seinen Unterleib, dreht fast gleichzeitig ihren Unterarm gegen seinen klammernden Daumen und schlängelt sich aus dem Klammergriff. Ein kräftiger Kampfschrei begleitet den abschließenden Kinnhaken. Er sackt zu Boden.

Verletzt ist Udo nicht. Bei den realitätsnahen Selbstverteidigungsübungen trägt er immer einen gepolsterten Schutzanzug und eine Gesichtsmaske, damit die Teilnehmerinnen mit voller Wucht zuschlagen und ein Gespür für ihre Körperkraft entwickeln können.

Lektion drei: „Nützt die Schwachstellen des Klammergriffs, dort, wo sich Daumen- und Fingerspitzen berühren, aus und spannt die ganze Handmuskulatur an“, sagt Kumpe. Seine Partnerin und er zeigen uns im Zeitlupentempo, wie wir unser Handgelenk aus der Umklammerung lösen können.

Paarweise beginnen wir zu üben. Meine Partnerin greift fest zu. Das klappt nie, denke ich, und schon gar nicht, wenn ich einem richtig starken Mann gegenüberstehe. Ich spanne jeden Muskel meiner Hand an, drehe das Gelenk gegen die greifenden Daumen und Finger meiner Gegnerin, ziehe – und tatsächlich, sie gibt nach.

Bei der nächsten Trainingseinheit wird kombiniert: schocken, schlagen, lösen. Die beiden Seminarleiter demonstrieren sacht die einzelnen Verteidigungsschritte. „Seid wie das Wasser, immer in Bewegung und glitschig, dann habt ihr gegen jeden Gegener eine Chance“, sagt Kumpe. Das Ganze wirkt bei den beiden so leicht, so tänzerisch. Dann sind wir an der Reihe.

Meine Gegnerin packt mein Handgelenk. Ich schreie, simuliere einen Tritt in die Weichteile und versuche gleichzeitig meinen Unterarm aus dem Klammergriff zu lösen. Gleich drei Sachen auf einmal, blitzschnell ausgeführt im Ernstfall – das merke ich mir doch nie. „Wenn ihr euch entschließt zu kämpfen, dann richtig, mit voller Wucht“, sagt Kumpe, während er wieder seinen Kampfanzug überzieht.

Irgendwie hat sich die Situation jetzt verändert, das Seminar wirkt nicht mehr wie ein Spiel. Es wird Ernst. Ich stehe dem schwarzen, kräftigen Mann gegenüber, er kommt auf mich zu. Der echte Udo Kumpe und die anderen sind weit weg. Angst. Er packt mich. Wie noch mal … schocken, schlagen … Ich brülle los, meine nach vorne stoßende Faust fängt er ab … hält nun beide Unterarme fest … versucht, mich nach unten zu stoßen.

Mit voller Wucht ramme ich mein Knie in seine Schwachstelle unterhalb der Gürtellinie. Treffer! Blitzschnell entwinde ich mich dem gelockerten Griff. Vom Erfolg berauscht, schlage ich hemmungslos mit beiden Fäusten auf ihn ein. Er sackt zu Boden, ich bin völlig außer Atem, aber stolz. Die Hemmschwelle ist durchbrochen. Jetzt weiß ich, wie viel Kraft ich entwickeln kann, wenn’s sein muss.

„Das Wissen um die Selbstverteidigungstechniken soll euch vor allem beruhigen und selbstsicherer machen“, sagt Kumpe. Keine Angst zeigen, dem Gegner offen gegenübertreten, ihn ruhig, aber bestimmt in seine Schranken verweisen – damit könne eine gewalttätige Auseinandersetzung meist verhindert werden. „Erst wenn er euren persönlichen Sicherheitsabstand überschritten hat, dann wehrt euch mit Ellbogen, Fäusten, Knien, Füßen. Nützt seine Schwachstellen, Gesicht, Genitalien und Füße, aus“, betont er. „Und verwendet die Waffen, die ihr zufällig dabeihabt, Schirm, Taschen, Jacken“, ergänzt seine Partnerin.

Die drei Stunden haben keine von uns zur furchtlosen Selbstverteidigungskünstlerin gemacht. Wir haben lediglich verschiedene Gefahrensituationen besprochen, Verhaltensmöglichkeiten von der verbalen bis zur körperlichen Abwehr möglichst realitätsnah geübt. Im Ernstfall ausprobieren möchte sie keine von uns. „Am sichersten ist es immer, gefährliche Situationen zu meiden, kein Risiko einzugehen“, sagt Kumpe. „Jeder vermiedene Kampf ist ein gewonnener Kampf.“

SANDRA SACHS, 24, taz.mag-Hospitantin, studiert Journalistik in Bamberg