„Die Revolution geht weiter“

Interview HANNES KOCH

taz: Viele Leute haben mit den Aktien der New Economy jede Menge Geld verloren. Nun überlegt die Deutsche Börse in Frankfurt, dieses Segment für moderne Firmen wieder einzustellen. Ist die New Economy am Ende?

Ulrich Klotz: Vieles am Neuen Markt hatte weder Hand noch Fuß. Manchmal bestand das ganze Geschäftsmodell einer Firma ja nur in dem Börsengang, und nicht selten handelte es sich um schlichten Betrug. Aber die New Economy im ursprünglichen Sinn hat wenig mit dem Neuem Markt zu tun, denn es geht weder um ein Börsenphänomen noch um eine spezielle Branche. Sondern um einen Wandel, der allmählich die gesamte Wirtschaft, ja die gesamte Gesellschaft erfasst.

Ein paar hundert neue Unternehmen sollen die Gesellschaft revolutionieren?

Nicht Unternehmen, sondern eine Technologie, die seit rund 50 Jahren auf dem Vormarsch ist. Ich meine den Computer und die digitalen Netze, die es ermöglichen, Informationen immer billiger und schneller zu verarbeiten und zu verbreiten. Inzwischen ersaufen wir alle in Informationen. Wenn aber etwas reichlich vorhanden ist, dann wird etwas anderes knapp. Und wenn sich die relativen Knappheiten ändern, dann ändert sich mitunter fast alles in der Gesellschaft, dafür liefert die Geschichte viele Beispiele.

Wann hat sich solch ein technologischer Wandel schon einmal ereignet?

In der Agrargesellschaft war Boden der knappe Faktor. Vor etwa zweihundert Jahren gelang es dann, durch die Technik der Dampfmaschine menschliche und tierische Muskelkraft zu ersetzen. Die maschinellen Produktionsprozesse wurden immer energieintensiver, denn Energie war auf einmal reichlich vorhanden. Dabei wurde aber etwas anderes knapp: der Faktor Sachkapital – deshalb löste der Kapitalismus den Feudalismus ab. Heute werden dank Computern alle Prozesse und Produkte immer informationsintensiver – und was wird nun knapp? Die Fähigkeit, Informationen in Wissen zu verwandeln – Humankapital also. Das kann man ja nicht beliebig vermehren. Es wird umso knapper, je stärker die Informationslawine wächst. Unser heutiger Fachkräftemangel ist nur ein Vorbote dieses Wandels. Ein weltweiter Kampf um Talente zeichnet sich schon deutlich ab.

Die Leute, die Aktien der Internetfirmen gekauft haben, werden heute verspottet, weil sie einer Massenhysterie aufgesessen seien. Hatte der Börsenhype einen rationalen Kern?

Viele Menschen haben geahnt, dass besonders mit dem rasant wachsenden Internet etwas Neues kommt. Solche Abfolgen von Euphorie und Enttäuschung ereigneten sich immer wieder, wenn wichtige technische Innovationen aufkamen. Zum Beispiel gab es im 19. Jahrhundert mit der Eisenbahn einen Wahnsinnsboom und einen ebensolchen Absturz. Was übrig blieb, war das Schienennetz – und diese neue Infrastruktur war die Grundlage für ein jahrzehntelanges Wirtschaftswachstum. Und vor rund hundert Jahren passierte Ähnliches mit der damaligen New Economy, der aufkommenden Autoindustrie.

Manche neuen Betriebe haben behauptet, die Arbeitsverhältnisse radikal zu verändern. Nun sind viele Firmen bankrott. Was bleibt von der angeblich neuen Art, zu arbeiten?

Was wir heute unter „Arbeit“ verstehen, hat sich erst mit der Industrialisierung herausgebildet. Damit sind ja unter anderem auch Gewerkschaften entstanden. Jetzt vollzieht sich etwas Ähnliches, und es könnte sein, dass einige Fundamente, auf denen die Gewerkschaften stehen, dabei allmählich zerbröseln. In der Agrargesellschaft lebten und arbeiteten die Menschen im Rhythmus der Natur. Dann kamen die Maschinen, deren Kraft sich nur sinnvoll nutzen ließ, wenn man die Menschen an einem Ort zur selben Zeit versammelte – in der Fabrik. Damit entstanden viele neue Zwänge. Auf einmal wurde der Tag in Arbeitszeit und Freizeit aufgeteilt, der Wohnort war nicht mehr der Arbeitsort, die Menschen mussten kaserniert arbeiten. Jetzt kommen die Computer und digitalen Netze – und zumindest viele Wissensarbeiter können auf dieser Basis heute überall und jederzeit arbeiten. Die Zwänge und Grenzen der Industrieära zerfließen wieder. Die Grenzen zwischen Arbeits- und Freizeit, zwischen Wohn- und Arbeitsort, zwischen Ausbildung, Arbeit und Ruhestand, zwischen abhängig und selbstständig Beschäftigten verschwimmen mehr und mehr.

Wenn Wissen, also eine menschliche Fähigkeit, wichtiger wird, gewinnen dann die Beschäftigten mehr Einfluss? Können sie mehr verlangen von den Unternehmern?

Bei einem Teil der Beschäftigten trifft dies zu. Denn der Anteil der Informationsverarbeitung an der Wertschöpfung und der Anteil der reinen Informationsarbeiter nimmt dramatisch zu. Das hat Folgen. Ein Beispiel: Wer Autos produziert, braucht für das tausendste Exemplar genauso viel Rohmaterial, Energie und Arbeit wie für das hunderttausendste. Bei einem immateriellen, digitalisierten Produkt, etwa einem Computerprogramm, erfordert die Produktion und Verteilung von Millionen Kopien dagegen fast keinen Aufwand mehr. Es ist wie bei einem Roman oder einem Musikstück – die Arbeit steckt in der Entwicklung, nicht in der Vervielfältigung. Um Millionen Kühlerhauben zu produzieren, machen tausende Menschen tausende Male dieselben Arbeitsbewegungen. Bei digitalisierten Gütern hingegen gibt es diese kolonnenhafte, gleichförmige Routinearbeit, die ich präzise messen und bewerten kann, gar nicht mehr. Hier zählen die Idee und die Qualität der Entwicklung.

Das klingt nach dem goldenen Zeitalter, das uns die New-Economy-Theoretiker versprochen haben. Wieso entsteht dann beispielsweise bei der nach Indien ausgelagerten Datenerfassung ein neues Computerproletariat, das extrem eintönige Tätigkeiten ausführt?

Von wegen „golden“. Die Arbeitswelt spaltet sich stärker auf: in Wissensarbeiter, die zugleich Besitzer ihres wichtigsten Produktionmittels sind – und in Menschen, die beispielsweise in Fabriken arbeiten, die anderen gehören. Mit der Informatisierung verschwindet ja die Industrie genauso wenig, wie die Landwirtschaft mit der Industrialisierung verschwand. Und außerdem arbeiten auch viele Wissensarbeiter als abhängig Beschäftigte und auch in tayloristisch-zerstückelten Arbeitsformen. Aber je wertvoller das Wissen ist, das sie im Kopf mit sich herumtragen, desto abhängiger ist die Firma von ihnen. Künftig werden sich manche Unternehmen bei den Wissensarbeitern bewerben müssen, statt wie bisher umgekehrt. Aber auf der anderen Seite konkurrieren Routinearbeiter mit immer billigeren technischen Systemen in einer Spirale nach unten.