Ich will kein Kind von mir

Sie bewegen die Lippen, aber antworten nicht, und manchmal läuft ihnen eine weiße Substanz aus dem Mund. Eine Geschichte

von JOCHEN SCHMIDT

Ich erhole mich gerade von einer Virusinfektion, als es an der Tür klingelt und jemand mir etwas verkaufen will, weil die Telekom die Preise für Ferngespräche senkt. Wie bitte? Das verstehe ich nicht. Führen sie denn viele Ferngespräche? Höchstens mit meiner Mutter, aber die ruft immer selber an. Na, dann kommt das für sie gar nicht in Frage. Ach so, auf Wiedersehen.

Ich erhole mich gerade zum zweiten Mal von einer Virusinfektion, als meine Mutter anruft: „Im Mannheimer Morgen stand, Britney Spears soll jetzt einen Spagat machen.“

„Was?“

„Zwischen Anspruch und Kommerz. Wollte ich dir nur mal sagen.“

Ich erhole mich gerade zum dritten Mal von einer Virusinfektion, als es an der Tür klingelt. Der kurze Ton, bei dem man noch Zeit hat, sich anzuziehen und aufzuräumen, bis der Besuch die Treppe gefunden hat. „Hallo, hier ist Monica.“

„Hallo, komm doch rauf, du musst nur die Treppe vom Seitenflügel finden.“

„Nein, komm lieber runter, ich hab den Kinderwagen dabei.“

„Kinderwagen? Hast du denn Kinder?“

„Beeil dich.“ Ich gehe also runter und ziehe mich unterwegs an. Ich habe Monica seit einem Jahr nicht gesehen, das reicht für ein Kind. Wir gehen spazieren. „Willst du mal schieben?“

„Doch nicht hier, vor all den Leuten.“ An der Ecke versuche ich es doch mal, obwohl es ein altmodischer Kinderwagen mit vier Rädern ist. So einen würde ich mir nie kaufen, wo es doch jetzt diese mit drei Rädern gibt, mit denen man auch joggen kann. Immer wenn wir einem anderen Mann mit Kinderwagen begegnen, hupe ich und grüße mit der Hand wie ein Busfahrer. Trotzdem gefällt mir das nicht. Ich glaube, ich kaufe mir auch keinen mit drei Rädern, sondern lieber ein kleines Auto mit Fernsteuerung. Da kann man sich auf eine Bank setzen und das Kind durch den Park fahren lassen. An der Ampel bleiben wir stehen, und ich sehe mir Monicas Kind zum ersten Mal an. „Das ist ja süß! Ist es ein Mensch?“

„Sie heißt Conchita.“

„Hallo, Conchita, ich finde es völlig hirnrissig, dass Erwachsene mit Kindern immer so albern reden, als seien es Behinderte. Und dann fangen die Kinder irgendwann selber an, so zu reden, weil sie wissen, dass die Erwachsenen das süß finden. Wir machen das nicht so, okay?“ Das Kind bewegt die Lippen, aber es antwortet nicht. Vielleicht ist es doch behindert.

Wir setzen uns in ein Café, in das ich nie wieder gehen wollte, weil ich mich dort beim letzten Mal wie im Kindergarten gefühlt hatte. Alles war voller lärmender Gören, die um die Tische rannten und Einkriegezeck spielten. Irgendwann kam eine Mutter mit einem Dreijährigen, der mein Basecap im Mund hatte: „Hier, das wollte der Thorben Ihnen zurückbringen.“ Conchita liegt auf dem Rücken und kann sich nicht bewegen, weil sie mit ihrem ganzen Körper in einer Art Zwangsjacke steckt. Sie kann nur schreien. Monica macht die Zwangsjacke auf und holte das Kind heraus, das unter der Zwangsjacke noch eine andere Zwangsjacke trägt. Jetzt bekommt das Kind eine Flasche Milch in den Mund gesteckt und trinkt sie schneller aus als ich meinen Kaffee, weil es lieber wieder schreien will. „Das ist ja wirklich ein süßes Kind. Die hat ja sogar schon Haare an manchen Stellen auf dem Kopf“, sage ich zu Monica.

Ich spüre, wie ich schwach werde. Ich bin ja ein sehr kinderlieber Mensch, und das 24 Stunden im Jahr. Monica erzählt mir von dem Glücksgefühl bei der Geburt. Von der anschließenden fiebrigen Brustentzündung. Wie ihr Freund sich beschwert hat, weil er alles machen musste und sie immer nur im Bett rumlag. Wie ihre Schwiegermutter helfen kam und sich mit Monicas Freund ins Nebenzimmer setzte, wo beide rauchten und über sie lästerten. Als Monica vorschlug, mit dem Kind zu ihrer Mutter nach Spanien zu fahren, sah ihr Freund nicht ein, dass sie Urlaub machen wollte und er weiter arbeiten gehen musste. Ich gucke mir das süße Würmchen an, das von all dem nichts ahnt. „Guck mal, das erinnert mich an ‚Der Exorzist‘, nur dass dem Kind da grüne Soße aus dem Mund kam“, sage ich zu Monica. Conchita spuckt tatsächlich noch Stunden nach der Fütterung eine weiße Substanz aus, die Milch, die sich im Bauch anscheinend in Pudding verwandelt hat.

„Willst du sie mal halten?“, fragt mich Monica.

„Und wenn sie runterfällt?“

„Ach, der Arzt sagt, das soll gar nicht so schlimm sein, weil der Kopf noch total weich ist.“ Beruhigt nehme ich das Kind in den Arm, und es ist sofort still. Ein Papa ist eben doch spannender als eine Mutter. Die ist schließlich immer da und der Papa nur zu Weihnachten und zum Geburtstag. Die Erziehung ist gar nicht so schwer: Immer wenn Conchita das Gesicht verzieht, weil sie gleich schreien wird, muss man sie schütteln, dann hört sie sofort wieder auf, weil sie keine Luft mehr kriegt. Leider passiert das ungefähr alle fünf Minuten. Ich hatte gedacht, ich sollte sie nur mal halten, aber Monica will sie gar nicht mehr zurückhaben. Sie genießt es sichtlich, einmal ohne Kind dazusitzen. Ich kenne dieses Gefühl, gleich werde ich mich ihm wieder ganz hingeben.

„Die Elefantenbabys können doch gleich nach der Geburt laufen. Warum schaffen das die Menschen nicht? Ist das eine Zivilisationskrankheit?“

„Jetzt scheißt sie“, sagt Monica.

„Riecht man das?“

„Nein, das spürt man.“

„Wieso, das Gewicht kann sich doch nicht ändern.“

„Aber hier unten wird es wärmer.“ Langsam verstehe ich, warum der Satz „Ich hab heute die Kinder“ bei manchen fast so traurig klingt wie „Ich hab heute die Krätze“. Zu Hause rufe ich meine Mutter an und frage sie, ob ich als Kind auch einfach nicht aufs Klo gegangen bin. Von dem, was sie mir daraufhin erzählt, glaube ich ihr kein Wort.