Verantwortung von unten

Von der spalterischen zur solidarischen Globalisierung: Die Kriegsszenarien der USA vertuschen die Unfähigkeit, die Ungerechtigkeit einer gespaltenen Welt zu überwinden

Die Weichenstellung heißt Kampf um eine gerechtere Weltordnung oder Krieg zur Ausrottung des Bösen

In seinem Buch „Prinzip Verantwortung“ erläutert Hans Jonas: „Verantwortung ist die als Pflicht anerkannte Sorge um ein anderes Sein, die bei Bedrohung seiner Verletzlichkeit zur Besorgnis wird.“ Aber wo bleibt die Sorge um anderes Sein, wenn die USA und die anderen westlichen Mächte die armen Länder in Schulden von 2.500 Milliarden Dollar ersticken lassen? Wenn sie ihnen durch Zollbarrieren und Subventionen verwehren, an den Vorteilen der Globalisierung zu partizipieren? Wenn sie zum Beispiel Afrika mit seinen verheerenden Aids-Problemen im Stich lassen? Zehn Milliarden Dollar müssten dorthin zur Bekämpfung der Seuche jährlich fließen, fordert Kofi Annan. Ganze 300 Millionen haben die USA bisher dafür gespendet, aber den Militärhaushalt wollen sie laut Präsident Bush in den nächsten Jahren um 120 Milliarden bis auf 451 Milliarden Dollar aufstocken. Und die Europäer und die Deutschen sollen nachziehen. Wo bleibt die Verantwortung dafür, den Abwärtstrend der Entwicklungshilfe umzukehren, den Weltbankchef Wolffensohn ein Verbrechen nennt? Und wo bleibt die Pflicht, die skandalöse Ungerechtigkeit in der Verteilung der Globalisierungsgewinne zu beseitigen, die der Generaldirektor des Weltwährungsfonds Horst Köhler persönlich anprangert? Sogar US-Außenminister Powel gestand auf dem Weltwirtschaftsforum in New York, dass Armut und Hoffnungslosigkeit den Terrorismus fördern könnten. Noch deutlicher wurde der demokratische Senator Leahy: „Wir wären kaum der große Satan, würden wir Kindern in den armen Ländern den Schulbesuch und die notwendigen Impfungen ermöglichen.“

Warum fällt es ausgerechnet der führenden Weltmacht so schwer, ihre besondere Verantwortung für anderes Sein wahrzunehmen? Warum verweigert ausgerechnet sie sich einer dringend gebotenen Konvention zur Umweltschonung? Und warum stellt sie sich gegen den Rest der Welt in der Frage einer internationalen Kontrolle der Biowaffen, nachdem gerade aufgedeckt worden ist, dass die Anschläge mit Milzbrandkeimen im eigenen Land von einem heimischen Biowaffenlabor ausgegangen sind? Würde sich im Alltag einer so benehmen – sich unter Ausnutzung seiner Stärke nirgends gleichberechtigt einordnen, durch ständige Erhöhung eines Drohpotenzials die Gefügigkeit der anderen erzwingen, Gegner entwürdigen und niedermachen – was würden wir dazu sagen?

Als Psychoanalytiker würde ich auf einen ungestüm expansiven Jugendlichen tippen, der seine Unsicherheit hinter einem unbeherrschten Machtegoismus verbirgt, der deshalb keine Niederlagen einstecken kann, Abhängigkeit wie die Pest fürchtet, der jedenfalls noch zu unerwachsen ist, um aus einem Zusammenleben in Ebenbürtigkeit und der Sorge um anderes Sein Genugtuung schöpfen zu können. Wie könnte so einer aus seiner Egomanie herausfinden? Irgendwann bräuchte er die Erfahrung, dass er so verletzbar wie alle anderen ist und umso tiefer zu stürzen droht, je weniger er bei anderen Halt sucht und anderen Halt gibt. Und er sollte rechtzeitig lernen, sich mit den Augen der anderen, gerade auch seiner Gegner, zu sehen. Dazu bräuchte er energische Freunde, die ihn bei dieser Selbsterziehung kritisch begleiten.

Nun ist durch den 11. September ein solcher Schock eingetreten. Und einen Augenblick sah es auch so aus, als erkenne der Mächtige seine Hilfsbedürftigkeit und sein Angewiesensein auf Freunde. Aber diese dienten sich ihm nur in unkritischer Gefügigkeit an und stützten damit seine Illusion, seine Verletzbarkeit durch Ausrottung der offiziellen Feinde endgültig tilgen zu können. Daher nun, statt Selbstverteidigung und Vergeltung, der Plan, potenzielle Bedrohungen durch so genannte Schurkenstaaten schon von vornherein kriegerisch auszuschalten, obschon sich gezeigt hat, dass terroristische Gruppen sich mit Vorliebe gerade in Ländern der westlichen Allianz selbst einnisten und dass keines der drei ins Visier genommenen Länder der „Achse des Bösen“ in den Terror vom 11. September aktiv verwickelt war.

Wäre es etwa kein Symptom unerwachsener Verantwortungslosigkeit, würde die westliche Allianz ihre Finanzkräfte für immer neue kriegerische Abenteuer verschwenden, anstatt sie endlich entschlossen als Integrationshilfe für die wirtschaftlich ausgegrenzten armen Länder zu benutzen? Ist es etwa kein moralisches Versagen, nach dem Afghanistankrieg gewaltsam neue Kriegsszenarien aufzubauen, um mit militärischen Triumphen die Unfähigkeit zu vertuschen, die Ungerechtigkeiten einer sozial gespaltenen Welt zu überwinden? Ist es nicht durchsichtig, dass sich der reiche, übermächtige Westen zur Rechtfertigung neuer gewaltiger Aufrüstung als potenzielles Opfer drohender Verfolgung präsentiert, um damit den eigenen Verfolgerstatus zu kaschieren – starrköpfig unbelehrt durch den Modellfall Israel/Palästina, wo sich im Kleinformat täglich bestätigt, dass erstarrtes Verfolgungsdenken nur zu endloser gemeinsamer Barbarei führen muss?

Zurzeit fehlen der Hegemonialmacht Freunde, die sich durch kritischen Rat unbequem machen

Aber jeder sieht, zurzeit fehlen der Hegemonialmacht Freunde, die sich durch kritischen Rat unbequem zu machen wagen. Jeder wollte einst mit seinen Solidaritätsschwüren vornean sein. Nun haben sie kalte Füße. Nur Frankreichs Premierminister und Außenminister wagen laut auszusprechen, was die meisten ihrer Kollegen denken. Jetzt wäre mal die Gelegenheit, etwas von vereintem Europa außenpolitisch sichtbar zu machen, um mit gemeinsamer Standhaftigkeit ernst genommen zu werden. Schließlich geht es um eine folgenschwere Weichenstellung: entweder Aufbruch zum Kampf um eine gerechtere Weltordnung als Weg zu einer Kultur des Friedens – oder neue Kriege zur Ausrottung des „Bösen“, wo immer sich Hassobjekte als Weltfeinde anbieten oder auch erst aufbauen lassen.

Ähnlich wie seinerzeit zum Thema Umwelt hat sich nun zum Thema „solidarische Globalisierung“ eine neue Bewegung gebildet, die unlängst auf dem Berliner Attac-Kongress und nun auf dem Weltsozialforum in Porto Allegre endlich die verdiente Aufmerksamkeit gefunden hat. Sie könnte sich auch „Gerechtigkeitsbewegung“ nennen, denn ihre wichtigsten konkreten Ziele laufen auf die Eliminierung von Ungerechtigkeiten hinaus – wie durch Entschuldung der armen Länder, Umkrempelung des Welthandelsrechts, Ausschaltung der Steueroasen, Einführung einer Steuer auf Devisengeschäfte, Demokratisierung der internationalen Organisationen usw. Man mag sich verwundern, wie solche hochkomplexen und sinnenfernen Probleme eine Massenbewegung zu entfalten vermögen. Die Grünen konnten ihren Zorn an der verschandelten Natur festmachen. Die Friedensbewegten hatten die grausigen Atomraketen vor bzw. gegen sich. Woher aber kommt die Faszinationskraft einer doch eher abstrakten Leitvorstellung „solidarische Globalisierung“?

Eine psychologische Bedingung dürfte mitspielen, die zumindest hierzulande Attac zugute kommt: Seit kurzer Zeit erweisen sozialpsychologische Erhebungen, dass der Egokult unter den Deutschen zusehends an Boden verliert. In den Selbstbildern der Menschen kommen lange vermisste soziale Bedürfnisse und Einstellungen wieder zum Vorschein: Verantwortung wird wieder groß geschrieben. Die Leute porträtieren sich im Durchschnitt rücksichtsvoller, fürsorglicher. Sie suchen vermehrt nähere Verbundenheit und stabile Beziehungen. Die anderen sind ihnen so wichtig wie seit langem nicht mehr.

Warum fällt es den USA so schwer, ihre besondere Verantwortung für anderes Sein wahrzunehmen?

Die Wurzel von Gerechtigkeit ist Mitfühlen, lehrte Schopenhauer. Und der moderne amerikanische Philosoph Richard Rorty stellt fest: „Der moralische Fortschritt ist davon abhängig, dass die Reichweite des Mitgefühls immer umfassender wird.“ Davon wird etwas spürbar, wenn man sich in Attac-Kreisen umhört. Da ist etwas von jenem Verpflichtungsgefühl aufgelebt, das Joseph Weizenbaum einmal benannt hat, als er schrieb, dass der Mensch sich nur dann als ganze Person und nicht bloß als Figur in einem Drama ansehen könne, das anonyme Mächte geschrieben haben, wenn er so handele, als hänge die Zukunft des Ganzen von ihm ab. Wird dieses Verantwortungsbewusstsein oder eine entsprechende Durchschlagskraft bei denen vermisst, denen entscheidende gesellschaftliche Gestaltungsaufgaben zugeteilt worden sind, dann lässt sich doch nur von Glück sagen, wenn eine Bewegung von unten Druck macht, die sich die „Sorge für anderes Sein“ auf die Fahnen geschrieben hat.

HORST-EBERHARD RICHTER