Psychiatrie-Reformhilfe aus Europa

■ 400.000 EU-Euro fließen nach Bremen, um ein neues Weiterbildungskonzept zu entwickeln. Es soll die ambulante Betreuung von psychisch Kranken verbessern. Die MacherInnen schauen dabei nach England und Italien

Die Psychiatrie ist im Umbruch. Krankenhausstationen werden zugunsten von ambulanter oder regionaler Betreuung aufgelöst – auch wenn es dagegen sporadisch noch Widerstände gibt (siehe taz von gestern). Doch schon fließen rund 400.000 Euro aus der Europäischen Union unter anderem nach Bremen, damit hier ein Weiterbildungskonzept für psychiatrische Fachkräfte entwickelt wird, die chronisch Kranke oder Menschen in einer psychischen Krise ambulant behandeln und pflegen können sollen. Dafür arbeiten 17 Einrichtungen in Italien, England und Deutschland zusammen. In Bremen koordiniert die Initiative zur Sozialen Rehabilitation die Kooperation, an der sich auch Bildungsträger, die Krankenkasse AOK, ein niedergelassener Nervenarzt und ein Beratungsbüro beteiligen. Die taz sprach mit Koordinator Jörg Utschakowski.

taz: Was ist das Fernziel Ihrer Arbeit?

Jörg Utschakowski: Wir wollen ein Weiterbildungskonzept erarbeiten, damit alle Möglichkeiten der ambulanten psychiatrischen Fachkrankenpflege voll ausschöpft werden können. Das heißt, die ambulanten Dienste sollen stark gemacht werden, so dass sie eine echte Alternative zur Krankenhausbehandlung bieten können. Bereits jetzt werden schon 60 bis 80 Patienten in einem ambulanten Projekt betreut und so der Aufenthalt in der Psychiatriestation vermieden.

In anderen Ländern ist man weiter, wie kommt das?

Ja, in Italien hat man die Versorgung schon in den 70er, 80er Jahren auf ambulant umgebaut, auch in England gibt es Versorgungsregionen, die fast nur noch ambulant arbeiten. In Bremen wie in Deutschland allgemein haben wir gute Arbeit im Bereich der Langzeitpsychiatrie gemacht, und rehabilitative Einrichtungen wie betreutes Wohnen und Arbeitsangebote aufgebaut. Aber bei der Akutpsychiatrie war man nach meiner Meinung etwas halbherzig. Da hat man zwar regionale Zuweisungen gemacht, aber in ambulante Arbeit ist das nicht gemündet.

Warum?

Einerseits ist das ein Problem von unterschiedlichen Kostenträgern, die es so in anderen Ländern nicht gibt. Da gibt es ein Gesamtbudget für Psychiatrie – und dadurch kann man intern leichter verschieben und eben auch Krankenhausbetten schnell „auflösen“. Das ist bei uns viel schwieriger, wenn verschiedene Interessengruppen noch mitmischen.

Welche Patienten können denn ambulant psychiatrisch betreut werden?

Nach den Erfahrungen der anderen Länder können alle Patienten, die stationär behandelt werden, auch ambulant versorgt werden. Was nicht heißt, dass man immer auf stationäre Versorgung verzichten kann. Aber für Bremen gehen wir davon aus, dass wir die stationären Fälle um 90 Prozent reduzieren könnten.

Wie sähe das aus?

Das hängt von gesetzlichen Vorgaben ab. In England oder Italien beispielsweise kann man Menschen 24 Stunden ambulant betreuen. So was ist in Deutschland derzeit nicht erlaubt. Dabei rechnet sich die ambulante Arbeit sogar, weil wir damit früher intervenieren und Klinikaufenthalte verkürzen können. Wir sind also schon da, bevor alle Nachbarn und Verwandten schon nichts mehr mit dem Kranken zu tun haben wollen. Es ist nicht nur Arbeit an einem anderen Ort, sondern auch mit einem neuen Konzept, das das soziale Umfeld, beispielsweise Familie oder Nachbarn, stärker einbezieht. Der Kranke wird nicht aus dem gewohnten Umfeld rausgerissen, in die Klinik gebracht – und im Nachhinein, muss man die Unterstützung zu Hause wieder herstellen. Ein anderer Vorteil ist, dass unser Angebot niedrigschwelliger ist. Viele Patienten heutzutage warten ewig ab, bis die Krise sich zugespitzt hat. Dann kommen sie mit hohem Behandlungsbedarf in die Klinik. Sind ambulante Dienste vor Ort, dann kommen Betroffene früher, wenn sie wieder Stimmen hören oder die Depression immer schwerer wird.

In Triest beispielsweise, wo halb so viele Personen leben wie in Bremen, werden im Jahresdurchschnitt nur 32 Personen zwangsbehandelt. In Bremen liegt diese Zahl um das Zehnfache höher.

An wen richtet sich Ihr Ausbildungskonzept?

An heutige Krankenpflegekräfte, die mit ihrem stationären Hintergrund für ambulantes Arbeiten nicht ausreichend ausgebildet sind. Im Krankenhaus ist man Arbeitsteilung und Delegation von Aufgaben gewohnt, man arbeitet immer in einem großen Teamzusammenhang, aber im ambulanten Bereich ist die Pflegekraft ganz anders gefordert. Sie ist zuerst auf sich selbst angewiesen, wenn sie da beim Patienten im Wohnzimmer sitzt.

Im Krankenhaus Ost regt sich derzeit Protest gegen die, wie es heißt, „virtuelle Regionalisierung“ – weil sie nämlich in Stadtteil-zugeordneten Zentren stattfinden soll, die sogar noch auf dem Klinikgelände liegen. Davon unabhängig fürchten aber auch Assistenzärzte, dass ihre Spezialisierung verloren ginge, wenn sie quasi als Allround-Kräfte gemeindenah arbeiten müssten. Wie schätzen Sie das ein?

Ich meine, dass Spezialisierung nicht verloren gehen muss. Die ambulante Arbeit kann, weil neue und unerwartete Aspekte hinzu kommen, die die Arbeit auch erleichtern und verbessern und das Spektrum der Handlungsmöglichkeiten auch erweitern. Man kann gemeindenah viel stärker die Ressourcen der Patienten wahrnehmen, nicht nur die Defizite. Im Krankenhaus erscheint eine Person beispielsweise hilflos und verwirrt, aber zu Hause merke ich, die Person geht immer noch einkaufen oder in die Kneipe nebenan – auch wenn sie ziemlich „verrückt“ ist. Da steckt auch ein Zugewinn drin. Spezialisierung muss nicht verloren gehen. Die Ärzte haben Sorge über die Facharztausbildung. In anderen europäischen Ländern war das auch erst mal so, weil man auch da die Spezialisierung vermisst hat. Aber in Italien ist es seit fünf Jahren so, dass auch im gemeindeorientierten Bereich die Facharztausbildung gemacht werden kann, weil man die Qualität und die Differenzierung, die da drin steckt, anerkennt.

Fragen: Eva Rhode