Volksrepublik von unten

Bei den Wirtschaftsreformen in China gewinnen allein Bürokraten und Konzerne, schreiben Charles Reeve und Xi Xuanwu. Die Arbeiter und Bauern sind die Verlierer

„Die Hölle auf Erden“: Schon der Titel lässt keinen Zweifel daran, was die in Frankreich lebenden Autoren Charles Reeve und Xi Xuanwu vom heutigen China halten. Der Sinologe und der Dissident im Exil beschreiben die Volksrepublik schlicht als unmenschlich. Ihr zentraler Beleg: Interviews mit einfachen Chinesen und Intellektuellen, ehemaligen politischen Gefangenen und Aktivisten. Die Gespräche haben sie während mehrerer Reisen zwischen 1995 und 1997 aufgezeichnet. Dabei ergab sich das Bild „eines stalinistischen Landes, das gezwungen ist, sich der Hektik des Marktes zu unterwerfen und den Widersprüchen einer bürokratischen Diktatur die Spannungen der Warenkonkurrenz hinzuzufügen“.

Reeve und Xi betrachten mit ihren Gesprächspartnern die Volksrepublik „von unten“. Sie präsentieren Einzelschicksale hinter der Fassade des Wirtschaftsbooms. Das ist ein löblicher Ansatz und notwendiger Kontrast zu den vielen meist euphorischen und einseitig wachstumsfixierten Berichten. Denn es gibt etliche Verlierer der Wirtschaftsreformen: Arbeiter in der staatlichen Industrie, die ihre soziale Absicherung („eiserne Reisschüssel“) verloren, Arbeiterinnen in Exportbetrieben, die unter sklavenähnlichen Bedingungen für den Weltmarkt schuften und ein Heer entwurzelter und entrechteter Wanderarbeiter. Einer von ihnen erzählt, dass er zunächst das Gefühl hatte, gutes Geld zu verdienen. Doch dann habe er, der unwissend vom Land in die Stadt kam, seine Ausbeutung mehr und mehr durchschaut. Als die Arbeitsbedingungen immer härter wurden, sei es zu einem Streik gekommen, der brutal niedergeschlagen wurde. Die Polizei verhaftete nicht nur zahlreiche Menschen, sie tötete auch einige der Demonstranten.

Zu Wort kommen in dem Buch auch Aktivisten, die nichts Gutes über die Demokratiebewegung berichten. Die Studenten von 1989 hätten mehr die Bewahrung eigener Privilegien im Sinn gehabt als Verbesserungen für die Arbeiter. Enttäuscht stellt ein Gesprächspartner fest: „Ehemalige Rotgardisten sind zu Bossen des Schwarzmarktes geworden, Exaktivisten der demokratischen Bewegung zu Börsenspekulanten.“ In China scheint es nichts Positives zu geben, zumindest vermittelt das Buch keinerlei Hoffnungsschimmer.

Die Hauptakteure der letzten Jahrzehnte erscheinen nur als Verräter einstiger Ideale, als macht- und geldgierige Bürokraten, skrupellose Menschenschinder oder naive Anhänger westlicher Demokratiemodelle. Eine Lösung, so wird den Lesern nahe gelegt, könne nur eine Revolution der Arbeiter sein und das am besten gleich weltweit. Solche platten „Analysen“ machen das Buch stellenweise zum Ärgernis. Ohnehin nervt sein altlinkes Politkauderwelsch und die Art mancher Fragen, die mal Zustimmung heischend und mal belehrend sind. Der Gipfel sind ideologische „Weisheiten“ wie die, dass Privateigentum die Quelle aller Übel sei, „seine endgültige Abschaffung bleibt für die Menschheit eine Parole voller Hoffnung und Befreiung“. Das ist nicht nur wenig hilfreich zum Verständnis der Situation der Arbeiter und Bauern, sondern könnte auch vielen die notwendige Auseinandersetzung damit verleiden.

SVEN HANSEN

Charles Reeve, Xi Xuanwu: „Die Hölle auf Erden. Bürokratie, Zwangsarbeit und Business in China“, aus d. Franz. von Andreas Löhrer, 224 Seiten, Edition Nautilus, Hamburg 2001, 18.80 €