bernhard pötter über Kinder
: Viel Spaß am Schmerz

In der Öffentlichkeit dürfen Kinder heute fast alles. Nur Schadenfreude kommt bei den Mitmenschen schlecht an

Durch den U-Bahn-Waggon ging ein hörbares Aufstöhnen. Der Mann mit der Lederjacke war gerade noch in den Zug gesprungen, als die Türen schlossen. Mit voller Wucht knallte er gegen das Fahrrad, das an der Tür stand. Schienbein gegen Stahl. Der Unglückliche krümmte sich vor Schmerz. Die Fahrgäste hielten aus Solidarität kollektiv den Atem an.

Jonas lachte lauthals los. „Der Mann ist da so rein und bumm gegen das Fahrrad“, gluckste er neben mir. Sein Gesicht strahlte reine Freude aus. Er bekam sich gar nicht mehr ein und zeigte mit dem Finger auf den armen Menschen, der sich mit Mühe einen Schmerzensschrei verbiss: „Und wie der guckt, Papa!“

Bis zu diesem Zeitpunkt war ich wegen meines Sohnes noch nie rot geworden. Ich hatte voll gekackte Windeln im voll besetzten Flugzeug gewechselt. Ich hatte seine Schreikrämpfe im überfüllten Zugabteil durchgestanden. Ich hatte zugesehen, wie er schwächere Kinder rumschubste. Mein Puls, mein Blutdruck und mein Adrenalinpegel waren dabei gestiegen. Aber peinlich war mir das nie gewesen.

Jetzt schon.

„Jonas, hör auf zu lachen“, flüsterte ich ihm ins Ohr. „Das ist nicht lustig, wenn andere Leute Schmerzen haben.“ Das war dumm. Versuchen Sie mal, die Lachattacke eines Dreieinhalbjährigen mit Vernunftgründen zu beenden. Und es war auch noch falsch. Denn – objektiv betrachtet – kann es durchaus lustig sein, wenn andere Leute Schmerzen haben. Davon lebt schließlich eine ganze Industrie. Seit Stan und Olli biegen wir uns vor Lachen, wenn ein Tolpatsch unter großem Getöse ein Auto zu Schrott fährt, wenn Carl Coyote am Ende jeder Roadrunner-Jagd in den Abgrund saust und wenn Loriot das schiefe Bild gerade hängen will und dabei das Zimmer verwüstet. Auch Politaktivisten werfen gern Bill Gates oder dem US-Klimaunterhändler eine Torte ins Gesicht, damit wir uns über die kuchenverklebten Haare und die sahneverschmierte Brille amüsieren können.

Doch wehe, aus dem Spaß am Unglück wird Ernst. Niemals würde Edmund Stoiber zugeben, dass er in seinem Münchner Amtsstüberl einen Freudenjodler erschallen ließ, als er von der Kölner SPD-Spendenaffäre hörte. Kein Fußballtrainer, der mit fröhlichem Lachen die Verletztenliste des Gegners quittiert. Freude über den Schmerz des Gegners darf höchstens klammheimlich sein.

Und das ist auch gut so. Schließlich erschwert es das Zusammenleben ganz ungemein, sich offen über den Schmerz des anderen zu belustigen. Also lässt man es besser bleiben. Diese Einsicht ist allerdings bei Jonas und seinen Freunden noch nicht weit verbreitet. Die Regeln des zwischenmenschlichen Fairplay muss man ihnen noch beibiegen. Also: nicht über Kranke lachen; keine Witze über Namen machen; niemanden ausgrenzen, selbst wenn er CDU wählt. Das ist der kategorische Imperativ für den Kindergarten. Schadenfreude ist angeblich die ehrlichste Freude. Das mag stimmen, aber ehrlich zeigen darf man sie dann offensichtlich nicht. Mein Bruder kann das bestätigen. Selten lacht sein Sohn Stefan so aus tiefstem Herzen, wie wenn vor ihm auf der spiegelglatten Straße eine Frau ausrutscht. „Man kann ja darüber lachen“, sagt mein Bruder dann. „Aber doch nicht öffentlich.“

Das meinten auch die Leute in unserem U-Bahn-Abteil. Eigentlich dürfen Kinder im öffentlichen Nahverkehr heutzutage ja praktisch alles: Mit dem Zeigefinger auf Dicke und Gebrechliche zeigen, laut von ihren Darmtätigkeiten berichten oder den Mitreisenden die sexuellen Praktiken der Eltern im Detail erläutern. Doch die Schadenfreude-Attacke meines Sohnes änderte das liberale Klima im Abteil schlagartig. Das Mindeste an Missfallen war die gerunzelte Stirn. Die Blicke sagten sogar laut und deutlich: „Wenn das meiner wäre!“

Weil es aber meiner war, beschäftigte mich das Problem. Bis zum Nachmittag. Da saßen wir am Küchentisch und tranken Apfelsaft. Jonas zappelte auf seinem Stuhl. „Sitz still und trink ruhig“, sagte ich. Und noch mal. Und noch mal. Dann rutschte er aus und knallte mit der Lippe an die Tischkante. Blut, Saft und Tränen. Und da hörte ich es in meinem Innern, fast verborgen hinter dem Mitleid, dem Trösten und Rotzabwischen: ein lautes „Ätsch!“.

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