„Damit wird das Regime untergraben“

Harald Müller, Leiter der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, über die atomare Zielplanung der USA

taz: Herr Müller, wird durch die Ausweitung der atomaren Zielplanung in der „Nuclear Posture Review“ die Schwelle für einen Atomwaffeneinsatz durch die USA gesenkt?

Harald Müller: Die USA haben in den letzten Jahren bereits klar gemacht, dass sie dort, wo sie die strategischen oder taktischen Notwendigkeiten sehen könnten, durchaus bereit wären, auch in regionalen Konflikten zu Kernwaffen zu greifen. Und ich darf daran erinnern, dass auch im Rahmen der neuen Nato-Strategie auf den Ersteinsatz von Kernwaffen keinesfalls verzichtet worden ist. Das heißt mit anderen Worten: Wenn sich eine konventionelle Lage ergibt, die anders nicht mehr zugunsten der eigenen Seite geändert werden kann, haben sich die USA immer vorbehalten, darauf auch mit Kernwaffen zu reagieren.

Kann die Drohung, Atomwaffen auch gegen Nicht-Kernwaffenstaaten einzusetzen, das Regelwerk zur Verhinderung der Verbreitung von Atomwaffen schwächen?

Damit ist auf jeden Fall zu rechnen, denn die so genannten „negativen Sicherheitsgarantien“, in denen sich die Kernwaffenstaaten verpflichten, die Nicht-Kernwaffenstaaten nicht nuklear zu bedrohen oder gar anzugreifen, sind insgesamt Teil des Gesamtgeschäfts, in dem als wichtigstem Bestandteil die Nicht-Kernwaffenstaaten auf die nukleare Option verzichten. Wenn dieser Teil des Kerngeschäfts wegfällt, kann es durchaus sein, dass der eine oder andere Nicht-Kernwaffenstaat den Kernwaffenverzicht überdenkt, denn die Vorstellung, dass man keine Kernwaffen hat, aber dennoch mit Kernwaffen bedroht werden könnte, ist natürlich nicht attraktiv. Das Regime wird damit deutlich untergraben.

Inwieweit betrifft das die Rüstungskontrollpolitik der Bundesregierung, und wie sollte sie darauf reagieren?

Die Bundesregierung wird darauf hinweisen müssen, dass sie selbst den Einsatz von Kernwaffen außerhalb der reinen Abschreckung für nicht sinnvoll hält und dass die Rücknahme der Sicherheitsgarantien für das Non-Proliferations-Regime schädliche Auswirkungen haben könnte. Sie wird die USA meiner Ansicht nach zu ersuchen haben, das noch einmal zu überdenken, denn noch ist die „Nuclear Posture Review“ nicht umgegossen worden in eine präsidentielle Anordnung, die gewissermaßen die Ergebnisse umsetzt in eine offizielle Doktrin. Es besteht also noch ein gewisser Spielraum, um auf die USA einzuwirken.

INTERVIEW: ERIC CHAUVISTRÉ