Konfrontation mit der Erinnerung

Wie elektrisiert verfolgen viele Menschen im Kosovo den Prozess gegen Slobodan Milošević vor dem UNO-Tribunal. Verdrängte Erinnerungen kommen wieder hoch. Beobachter kritisieren die mangelhafte Prozessvorbereitung von seiten Den Haags

aus Priština ERICH RATHFELDER

Hajdar Domi sitzt jeden Tag vor dem Fernseher und sieht sich die Übertragung der Verhandlung gegen Slobodan Milošević vor dem UNO-Tribunal in Den Haag an. „Ich habe ein paar Mal versucht, die Verhandlung zu ignorieren, es ist mir aber nicht gelungen“, sagt der ehemalige Bankangestellte. Nur in den Verhandlungspausen verlässt der Rentner das Haus, um einzukaufen und Freunde zu treffen. Auf der Terrasse des Hotels Iliria im Zentrum Prištinas bei einer Tasse Kaffee bespricht er dann mit Freunden, was zu sehen war.

Wie Hajdar Domi beobachten hunderttausende im Kosovo das Geschehen in Den Haag. Sie sind wie elektrisiert. „Als ich die Zeugen die Flucht schildern hörte, musste ich an meine Schwester und deren Familie denken, die damals kurz vor der Grenze nach Albanien von serbischen Truppen erschossen wurde“, sagt Vjosa Kastrati.

Bei vielen Menschen kommen Erinnerungen hoch. Vor allem als die 32-jährige Ajmane Behramaj ihren Fall schilderte. Sie berichtete, wie am 28. März 1999 serbische Truppen in ihr Dorf Izbica kamen und die Bewohner zwangen, sich auf den Weg nach Albanien zu machen. Sie habe gesehen, wie serbische Wachen zwei alte Frauen auf den Karren mit ihren Habseligkeiten setzten und ihn ansteckten. Sie schilderte, wie die Serben Frauen und Kinder von den Männern trennten, deren Geld stahlen und die Männer erschossen.

Nach den Erkenntnissen der Anklage sind damals 116 Männer getötet worden. Auf dem Weg in die Berge wurden die Deportierten immer wieder von Artillerie beschossen. Ajmane Behramaj gab ihr Kind ihrer Schwester zum Tragen, nach einer weiteren Artillerieattacke wurde sie von der Gruppe getrennt, die Geschwister verloren sich aus den Augen. Das Baby verhungerte später in den Armen der Schwester. Selbst der Angeklagte Milošević drückte bei der Verhandlung sein Mitgefühl aus und erklärte, es täte ihm Leid, dass das Baby tot sei. Doch er zweifelte die Ereignisse an und insistierte, dass die Schüsse auf die Fliehenden von der UÇK kamen. Was die Zeugin jedoch klar widerlegte.

Dass eine Dorfbewohnerin so mutig Milošević entgegentrat, hat im Kosovo Eindruck gemacht. Und auch, als am 27. Februar mit Halit Barani ein Mann in den Zeugenstand gerufen wurde, der sich gut vorbereitet hatte. Der Menschenrechtsaktivist aus Kosovska Mitrovica beschrieb Massaker und die Vertreibung von Albanern durch serbische Truppen und Paramilitärs. Er schilderte, wie er sich über Monate versteckte und beobachtete, wie 650 Menschen während der Vertreibung aus seiner Region seit Ende März 1999 ermordet wurden. Den Höhepunkt erreichte seine Aussage, als er eine von serbischen Behörden erstellte Liste mit 66 Albanern vorlegte, die liquidiert werden sollten und auch getötet wurden. Die Liste ist von dem militärischen Kommandeur der serbischen Streitkräfte unterzeichnet. Milošević erklärte, es handele sich um eine Fälschung. Im Kosovo zweifelt niemand an der Richtigkeit der Liste. „Viele solcher Listen waren damals im Umlauf, in vielen Städten sollte unsere führenden Leute liquidiert werden“, sagt Hajdar Domi.

„Die Zeugenaussagen und Fakten zwingen Milošević zunehmend in die Defensive“, glaubt Veton Suroi, Chefredakteur der Zeitung Koha Ditore. Dennoch sind viele Beobachter mit der Prozessführung nicht einverstanden. „Wenn sogar Serbiens Premier Djindjić bemängelt, Milošević könne sich vor dem Tribunal produzieren, ist dem nichts hinzuzufügen“, sagt der Soziologieprofessor und Menschenrechtsexperte Enver Hoxhaj. Der Prozess scheine zudem nicht systematisch vorbereitet zu sein.

Das gilt auch für die albanische Seite. Sie war nicht in der Lage, die Berichte der Menschenrechtskommissionen der „Demokratischen Liga Kosova“ zu systematisieren. „Jeder Polizeiübergriff wurde dokumentiert, mit Fakten, Zeugenaussagen“, erklärt Hoxhaj. Viel Material sei 1999 auf der Flucht verloren gegangen oder in die Hände der Serben gefallen. „Wir müssen alle Berichte sichten und die fehlenden rekonstruieren.“ Deshalb ist er dabei, ein Institut zu gründen, das diese Aufgabe übernehmen soll. Dort werden auch Vertreter von Minderheiten mitarbeiten.