Großinvasion in Ramallah

Israelische Truppen besetzen die palästinensische Stadt im Westjordanland und ein benachbartes Flüchtlingslager. Außenminister Schimon Peres verurteilt das Vorgehen der eigenen Regierung

aus Jerusalem SUSANNE KNAUL

Es bedurfte der Intervention eines Holocaust-Überlebenden, um den Umgang der Armee mit verhafteten Palästinensern im Flüchtlingslager al-Amari bei Ramallah zu mäßigen. Statt wie am Montag noch den Festgenommenen eine Identifikationsnummer auf den Unterarm zu schreiben, beschränkten sich die Soldaten darauf, den verhafteten Männern mit Plastikschnallen die Hände zu fesseln und ihnen die Augen zu verbinden. Das folgte auf einen Protest des Parlamentsabgeordneten Jossef Lapid.

Alle 16- bis 45-jährigen Männer in al-Amari waren gestern wie bereits am Montag aufgerufen, aus ihren Häusern zu kommen und sich in einer Schule zu versammeln. Die Palästinenser werden dann von Kollaborateuren identifiziert und entweder freigelassen oder zu weiteren Verhören abtransportiert.

Aus al-Amari stammt die erste palästinensische Selbstmordattentäterin Wafa Idris, die sich Ende Januar im Zentrum Jerusalems in die Luft gesprengt hatte. Israelische Bulldozer rissen das Haus ihrer Familie ein. In Ramallah wurde ein palästinensischer „Kollaborateur“ von seinen Landsleuten erschossen und anschließend auf dem Marktplatz an den Füßen aufgehängt. Am Montag war bereits in Gaza ein angeblicher palästinensischer Verräter exekutiert worden.

Kritik regt sich unterdessen in Israel am Vorgehen Ariel Scharons. Einerseits wird Arafat erneut bedingte Bewegungsfreiheit gewährt und Scharon verzichtet auf die, wie er selbst sagt, „unrealistische“ Bedingung einer siebentägigen Feuerpause, an der er über Monate festgehalten hatte. Andererseits setzt er die Palästinenser unmenschlichen Erniedrigungen aus. Dies empfinden auch viele Israelis als Doppelzüngigkeit.

Außenminister Schimon Peres, der gestern erneut mit dem palästinensischen Parlamentspräsidenten Abu Ala zusammentraf, verurteilte die neuen Invasionen in den Autonomiegebieten, und Oppositionsführer Jossi Sarid von der Meretz-Partei ist davon überzeugt, dass die Massenverhaftungen „den Widerstand und die Bereitschaft zum Selbstmordattentat nur verstärken werden“.

Ungeachtet der gravierenden Eskalationen setzt Verteidigungsminister Benjamin Ben-Elieser große Hoffnungen auf den bevorstehenden Besuch des US-amerikanischen Nahost-Abgesandten Anthony Zinni. Der Abgesandte will sich für einen sofortigen Waffenstillstand und den Abzug der israelischen Truppen aus dem Autonomiegebiet stark machen. Der palästinensische Informationsminister Jassir Abed Rabbo bezeichnete die Reise Zinnis als ein „Manöver“. Er glaube, die USA seien von der Offensive Scharons informiert gewesen. Es handele sich um eine Großoffensive zur Rückeroberung des Westjordanlandes und des Gaza-Streifens, sagte Rabbo weiter. Scharons Sohn habe den Palästinensern mitgeteilt, Ralmallah solle wieder besetzt werden, Arafats Büro bliebe aber verschont. Die USA hatten Israel zuvor gedrängt, Arafat die Reise zu dem Ende dieses Monats in Beirut stattfindenden Treffen der Arabischen Liga zu gewähren.

Angesichts des Einmarsches forderte die palästinensische Führung die Entsendung internationaler Beobachter in die Autonomiegebiete. Der UN-Sicherheitsrat müsse „umgehend“ eine Delegation schicken. UN-Generalsekretär Kofi Annan wollte gestern eine Sitzung des Sicherheitsrates in New York einberufen. Zweck sei „ein persönlicher Appell an die Führer Israels und der palästinensischen Behörde, die Gewalt unter Kontrolle zu bekommen“, sagte ein Sprecher Annans. Die Verantwortlichen müssten wieder an den Verhandlungstisch zurückkehren und den politischen Prozess in Gang bringen.