zoologie der sportlerarten: PROF. HIRSCH-WURZ über den Snowboarder
Tüte im Schnee
Wäre der Snowboarder ein Biathlet, dann wäre er längst tot. In diesem Fall müsste er nämlich zum Beispiel nach Oberhof und dort im Weltcup antreten. Oberhof, das hieße fünf Tage lang unbarmherzige Beschallung mit Stimmungsmusik der übelsten Sorte. Morgens, mittags, abends, ob beim Wettkampf, bei den Siegerehrungen, im Festzelt oder in den einschlägigen „Erlebnisgaststätten“: Dudelfunk geballt, Hände zum Himmel, Hölle auf Erden. Wer als normaler Mensch nach Oberhof kommt, der verlässt es nach dieser musikalischen Gehirnwäsche als Thüringer. Thüringische Snowboarder? Undenkbar.
Wäre der Homo lufticus also ein Homo loipicus militaris, er würde allerspätestens am zweiten Tag sein Gewehr nicht mehr auf die kleinen Zielscheibchen richten, sondern gleich auf die Konkurrenten, sich selbst, auf alles, was sich bewegt, und besonders auf alles, was da schallt. Doch zum Glück ist der Snowboarder weder loipicus noch militaris, verirrt sich daher nur höchst selten nach Thüringen und übt seine Profession zu gänzlich anderen Klängen aus. Sogar ins mormonenumzingelte Park City wurde eine Live-Band herbeigeschleppt, die den olympischen Höhenflug in der Halfpipe mit unglaublich lautstarken Rhythmen versah, wie sie in Oberhof die sofortige Verbannung nach Zella-Mehlis und Zwangsarbeit nicht unter zwei Jahren in den nahe gelegenen unterirdischen Christstollenfabriken nach sich gezogen hätten.
Solchermaßen inspiriert, schraubt sich der Homo lufticus mit seinem Brett derart gewagt in die luftigsten Höhen und vollführt dort solch turbulente Verrenkungen, dass bei Olympia selbst dem 91-jährigen Oberpropheten aller Mormonen vor dem Fernsehgerät angst und bange wurde. „Da wird sich noch mal einer den Hals brechen“, prophezeite der Prophet, fand die Sache aber trotzdem ganz toll.
Der Homo lufticus ist eine verhältnismäßig neue Komponente winterlichen Sportlerwesens und entstand merkwürdigerweise tatsächlich im frommen Utah. „Schluss mit der Vielbretterei“, dachte sich offensichtlich ein innovativer Bewohner dieses wohlerzogenen Staates, warf den überzähligen Ballast fort und erfand das monogame Skifahren. Er riss den nächstbesten Baum aus, schreinerte sich ein hübsch breites, aber nicht zu langes Brett, schmierte ein paar Graffiti drauf, legte sich eine schräge Frisur zu, drehte sich eine ordentliche Tüte, setzte ein breites Lächeln auf – fertig war der Homo lufticus, an dessen Erscheinungsbild sich seitdem nicht allzu viel geändert hat.
„Fun, fun, fun“, lautet die vorrangige Devise des Snowboarders, auch wenn er sonst mit den Beach Boys nichts zu tun haben will und „Pet Sounds“ gemeinhin nicht für die beste Platte des letzten Jahrhunderts hält. Dafür gibt es aber auch kaum einen Rockkritiker, der einen sauberen Back Flip hinkriegt.Seinen Spaß trägt der Homo lufticus vor sich her wie der Kreuzritter einst sein Schwert, lacht sich kaputt, wenn er auf dem Allerwertesten landet, und feiert umso heftiger, wenn er Letzter wird. Eine kleine verschworene Gemeinschaft von Partylöwinnen und -löwen, die mit ihrer ebenfalls snowboardenden Anhängerschar bei konspirativen X-Games Riesenhappenings feiern und keineswegs nur aus den Freak-Hochburgen USA, Frankreich, Russland oder Deutschland stammen, sondern aus obskuren Regionen, wo man derart hippe Gestalten kaum vermuten würde, wie Ukraine, Tschechien, Finnland, Schweiz. Thüringen? Fehlanzeige. Da sind sogar die Rotgefärbten entweder Biathletinnen oder Kombinierer.
In der Lufticus-Szene aber hätte man sich lieb und wäre hypercool bis in alle Ewigkeit, gäbe es da nicht die Dollars, die dank Olympia immer üppiger fließen. Anstatt weiterhin die Botschaft von Frohsinn und Outlawtum zu verbreiten, dienen sich die ersten Exemplare den Sponsoren und Medien bereits als brave, ernsthafte, geläuterte Hochleistungssportler an, die nichts so sehr verabscheuen wie den Konsum dieses scheußlichen Marihuanazeugs. Und nicht alle grinsen dabei so breit wie Bad Boy Danny Kass, der Silbermedaillen-Schwerenöter mit der verwesenden Leiche im Wappen, der sich vorerst noch gegen die Wandlung zum Homo lufticus domesticus sträubt.
Wissenschaftliche Mitarbeit:
MATTI LIESKE
Fotohinweis:Holger Hirsch-Wurz, 19, ist ordentlicher Professor für Humanzoologie am Institut für Bewegungs-Exzentrik in Göttingen
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