Die Monotonie des langen Moments

Metaphorische Dichte durch äußerste Reduktion: In „Der Fluss“ kultiviert der in Taiwan arbeitende Regisseur Tsai Ming-Liang eine Form von Sprach- und Ereignislosigkeit, die auf Ästhetizismus und Utopie verzichtet. Damit geht er weiter als alle anderen Vertreter des neuen ostasiatischen Autorenfilms

Den Zuschauern bleibt nur ein weit ausgelagerter Voyeursposten

von ANDREAS BUSCHE

Es gibt diese eine, fast absurde Szene in Tsai Ming-Liangs Film „Der Fluss“, in der, obwohl sie mit der gleichen Stoik vorübergeht wie jede andere Szene des Films, eine tiefe Tragik steckt. Am Ufer eines verschmutzten Flusses dreht ein Filmteam die Szene eines Leichenfundes, mit einem Dummy als Leiche. Die Regisseurin ist nicht zufrieden. Wieder und wieder lässt sie die Puppe in die braune Brühe schmeißen, ohne dass die Einstellung an Realismus gewinnt. Ein kurzer Monolog über die Vor- und Nachteile eines Dummys im Vergleich zu einem echten menschlichen Körper entwickelt sich, aber keiner aus dem Drehteam wagt, in das Dreckwasser zu steigen. Die Monotonie dieses langen Moments ist verstörend. Schließlich lässt sich Xiao-Kang, der sich von einer alten Schulfreundin an den Drehort hat mitschleppen lassen, dazu überreden, die Leiche zu spielen. Die Szene ist mit einem Take im Kasten. Später dann haben er und die junge Frau Sex auf einem Hotelzimmer.

Die etwa zehnminütige Szenenabfolge führt den Exkurs der Regisseurin über die Unterschiede von toten und lebendigen menschlichen Körpern ad absurdum. Denn ob bei der ersten Begegnung mit seiner Schulfreundin auf der Straße, beim Sex oder in seiner Rolle als Toter: Xiao-Kang wirkt gleich leblos, seine Teilnahme am gesellschaftlichen Leben beschränkt sich auf seine physische Anwesenheit. Verbale Kommunikation ist unmöglich.

Mit „Der Fluss“ scheint Tsai Ming-Liang das Kino in einen Rohzustand zurückgeführt zu haben. Die Dysfunktionalität der sozialen Praktiken hat er in eine in sich koheränte Filmsprache übertragen. Die langen Wege seiner Figuren führen bei ihm immer wieder ins Nichts, werden unterbrochen und aufgelöst von harten Schnitten, die keine räumlich und zeitlich logischen Anschlüsse finden. Auf Aktionen in diesem sozialen Raum folgt nur selten eine Reaktion, und wenn, bleibt sie Ausdruck einer tief verankerten Unsicherheit.

Mehr als alle Filme des ostasiatischen Autorenkinos, die in den letzten Jahren den Weg in die europäischen Kinos gefunden haben („Der Fluss“ kommt spät, bereits 1997 hat er auf der Berlinale den Silbernen Bären gewonnen), kultiviert „Der Fluss“ eine Form von Sprach- und Ereignislosigkeit, die sich jedem Ästhetizismus verweigert. Sie verweist auf nichts als die Mittelbarkeit der verhaltenen Gesten und der Gegenständlichkeit des Bildes, innerhalb dessen Frame wiederum sich eine fast kulturlose Ödnis erstreckt. Man meint, den bohrenden Blick Antonionis in den überlangen Plansequenzen erkennen zu können oder in den Anflügen skurriler Komik die stumme Verzweiflung eines Jacques Tati, aber diese vagen Orientierungsmarken bleiben zu unvereinbar, als dass sich von ihnen eine ästhetische Konzeption ableiten ließe. Ming-Liangs naturalistisch karge Bilder verweigern jede Anteilnahme und verstoßen den Zuschauer auf einen weit ausgelagerten Voyeursposten, von dem aus es unmöglich wird, sich dem Anblick des Elends zu entziehen. Dieses Spannungsverhältnis verschafft Ming-Liangs Bildern etwas kontrolliert Gewalttätiges, weil sie permanent in private Sphären vorstoßen und dort meist unerträglich lange verweilen.

Die Privatsphäre Familie ist in „Der Fluss“ längst dysfunktional. Ming-Liang führt einen Jungen, einen Mann und eine Frau ein, die erst nach einer halben Stunde an einem Ort zusammenkommen und wohl so etwas wie eine Familie darstellen sollen. Persönlichen Kontakt gibt es nicht und nicht einen Anflug von Emotionalität. Die erste Begegnung von Junge und Mann, Sohn und Vater, findet auf offener Straße statt, der Junge passiert den Mann einfach auf seinem Motorrad. Es wird nicht das einzige Mal sein, dass sie aneinander vorbeilaufen. In einer späteren Szene in einem Einkaufszentrum zeigt Ming-Liang ihr gegenseitiges Meiden und Ausweichen als die hilflose Choreografie eines Verständigungsproblems. Das Ringen um Nähe und Distanz wird wie in einem abstrakten Tanztheater bildlich gemacht.

Auch zwischen Mann und Frau existiert keine Beziehung mehr. Xiao-Kangs Vater sucht körperliche Nähe anderer Männer in den Séparées eines Saunabads. Seine Frau hat seit langer Zeit einen Liebhaber, der in einer nicht weiter geklärten Funktion in der Pornobranche arbeitet. Die Unterschiede der sexuellen Reize könnten nicht größer sein: Vaters Avancen sind sinnliche Schattenspiele im Halbdunkel, mehr eine Ahnung von Bewegung als sexueller Akt und in ihrer visuellen Weichheit ein fast metaphysisches Erlebnis. Die Sexualität der Mutter dagegen existiert nur noch im Zusammenhang mit den Pornos ihres Liebhabers, der in seiner Wohnung Videogeräte und Monitore wie eine multimediale Installation errichtet hat. Für den sexuellen Kontakt muss die Apparatur der Lustproduktion erst überwunden werden.

„Der Fluss“ ist der formal puristischste Film eines neuen ostasiatischen Autorenkinos. Seit etwa Mitte der Neunzigerjahre ziehen sich die Themen Isolation, Entfremdung, soziale Desolation, Gewalt und Kommunikationsstörung durch eine Großfestival-kompatible Gattung des japanischen, koreanischen, chinesisch-taiwanesischen, vietnamesischen etc. Autorenfilms, ohne dass mehr als eine ausgefallene regionale Eigenart, ein bestürzender Exotismus in der Spezifität dieses Gefühlshaushalts erkannt wurden. Wobei die Auswahlkriterien der internationalen Festivalgremien vielleicht eher Rückschlüsse auf unsere eigene Befindlichkeit als irgendeine asiatische ziehen lassen.

Ming-Liang hat in „Der Fluss“ die großen Themen des neuen ostasiatischen Films mit einer formalen Strenge komponiert, wie man es bisher nicht einmal bei seinem koreanischen Kollegen Kim Ki-Duk sehen konnte. Bei Ki-Duk, der durch seinen Film „The Isle“ bekannt wurde, ist die Dialektik von Sprachlosigkeit und Gewalt das Symptom eines Verlusts von kultureller Identität und sozialer Integrität, das er selbst vor allem im westlich geprägten ostasiatischen Raum verortet (womit wir eventuell auch schon den Grund für unsere Faszination an gerade diesen Filmen gefunden haben).

Auch in „Der Fluss“ zeigen sich solche Symptome: Xiao-Kang regrediert unter dem Einfluss mysteriöser Nackenschmerzen langsam zu einem verkrüppelten Pflegefall. Ein Leck in den Rohrleitungen über der Wohnung der Familie verwandelt das Schlafzimmer des Vaters in eine Tropfsteinhöhle. Und der eingangs erwähnte Industriefluss wird zur Metapher für den Selbstzerstörungstrieb der Zivilisation, der in der Desintegration der Menschen seine unerbittliche Form findet. Wo Ki-Duk sich in die Poesie eines, wie er es nennt, „semiabstrakten Realismus“ flüchtet, erlangt Ming-Liang durch die Reduktion der Mittel einen lapidaren, fast dokumentarischen Blickwinkel, wodurch die vereinzelten Objekte und Situationen wiederum eine metaphorische Dichte gewinnen. Und diese Metaphern finden sich in „Der Fluss “ immer wieder im direkten Umfeld der zerstörten Familie, die hier wie auch in vielen anderen asiatischen Filmen der letzten Zeit auf dem Prüfstein steht.

Aber mehr als diese Filme zerstört „Der Fluss“ die Hoffnung auf die Familie als soziale Monade. In Takashi Miikes Körperflüssigkeitsgroteske „The Visitor“ wurde die Schutzfunktion des Familiengefüges zwar durch die innere Zerrüttung in Form gewaltätiger Eskalationen denunziert. Doch am Ende wird eine Neuordnung als verkorkste Utopie in Aussicht gestellt. Indem die Frau mit ihren hyperproduktiven Milchdrüsen Haus und Heim unter Wasser setzt, kann sie ihre Familie zurück an die Mutterbrust holen. Der japanische Regisseur Shunji Iwai („Yentown – Swallowtail Butterfly“) zeigt in seinem aktuellen Film „All about Lily Chou Chou“ dagegen eine desolate Jugend, die sich längst ihren eigenen imaginären Sozialraum geschaffen hat. Ein Großteil der Narration findet im virtuellen Chatroom statt, während die realen Handlungen irrational und kaum nachvollziehbar erscheinen. Aus der Diskrepanz von virtuellem Sein und realer Entfremdung hat sich ein Gewaltpotenzial entwickelt, das sich schließlich wenig befreiend entlädt.

Diese soziale Dislozierung, der Ursprung von Ohnmachtsgefühl und gewalttätigem Ausbruch, haben im deformierten Körper Xiao-Kangs ihr nachhaltigstes Bild gefunden. In der Verkrüppelung als stillem Protest gegen die desfigurierte Familie ist das Scheitern allerdings schon abzusehen. Denn die Vergewisserung des eigenen Körpers kann bei Ming-Liang nur zu falschen Schlüssen führen: Der einzige Moment von Intimität zwischen Vater und Sohn hat unüberwindliche Distanz zur Folge. Und bezeichnenderweise wird erst ihr Schweigen diese Erfahrung für sie fassbar machen.

So hinterlässt Ming-Liang mit „Der Fluss“ den bisher fulminantesten Eindruck von Vergeblichkeit im asiatischen Kino. Seine Bilder entbehren jeglichen poetischen (und damit utopischen) Potenzials, während er in den zögerlichen Handlungen seiner Figuren immer wieder nur die Ausweglosigkeit ihres Zustandes vor Augen führt. Auch wenn Gewalt physisch kaum vorkommt, ist sie doch strukturell in den Bildern angelegt. Sie hat sich – das ist die wohl größte ästhetische Herausforderung des Films – in den mitunter quälend langen Einblicken längst gegen Zuschauer gewandt, ohne dass eine Möglichkeit zur Flucht besteht.

„Der Fluss“. Regie: Tsai Ming-Liang; mit Lee Kang-Sheng, Miao Tien, Lu Hsiao-Ling u. a., Taiwan 1997, 115 Min.