Rendezvous mit Kieselsteinen

Wo verbringen wir einen nicht unerheblichen Teil unserer Freizeit? Im Wartezimmer

Bei meiner Gynäkologin – ihre Praxis liegt in St. Pauli – hat eine neue Sprechstundenhilfe angefangen. Das Wartezimmer ist mal wieder proppenvoll. Auftritt der neuen Sprechstundenhilfe: „Der Nächste bitte!“ Ein kollektiver Aufschrei will sich unseren Brüsten entringen, da erhebt sich eine Patientin und stöckelt zur Tür. Wir sinken auf unsere Stühle zurück. Diese Waden sind nicht als Frauenwaden auf die Welt gekommen. Nun ja – wo sind wir denn? Wir sind auf dem Kiez, die Frauenärztin ist „in“, und wir sind alle progressiv bis auf die Knochen. Also blättern wir weiter stumm in Emma, Natur und ähnlichen Zumutungen. Wenn ich bei einem Arzt warte, will ich nicht belehrt werden, ich will mich amüsieren. Schließlich verbringe ich einen nicht unerheblichen Teil meiner Freizeit in Wartezimmern. Ab einem gewissen Alter verwandeln sich die kritischen Tage der Frau in kritische Jahre, und ab diesem Zeitpunkt finden ihre Rendezvous vorwiegend mit medizinisch geschultem Personal statt.

Szenenwechsel: Ein anthroposophischer Arzt ist mir empfohlen worden. Ich betrete das Wartezimmer und falle sogleich über Kieselsteine, die auf dem Boden verstreut herumliegen. Wo keine Kieselsteine herumliegen, wälzen sich Zweige mit vertrockneten Blättern. Sieht aus wie ein Blumenladen, der vor längerer Zeit aufgegeben worden ist. Habe ich die falsche Tür erwischt? Auf dem Fensterbrett die Sorte müder Topfpflanzen, die ich nur in Verbindung mit Ikea-Möbeln zu sehen gewohnt bin. Hier sitzt ein anderes Publikum in dumpfem Schweigen vereint. Viel Loden hängt an der Garderobe, auch der Teint ist naturbelassen. Hirsepicker, schätze ich. Und Hausmusik. Ich tippe auf Streichquartettabende mit rationierten Käseschnittchen. „Sich mit allzu streng geregelter Lebensweise gesund erhalten ist an sich schon eine ernste Krankheit (Rochefoucault)“ hängt eingerahmt an der Wand. Sieh mal an. Und ich fürchtete schon, der Doktor würde mir das Rauchen verbieten. Tat er zwar trotzdem, nützte aber nichts.

Ein neuer Tag. „Ich kann jetzt nicht die Treppe machen, ich muss zu Doktor Tietz“, sage ich zu meiner Nachbarin, die zwecks Ermahnung bei mir geklingelt hatte. „Ach, der Arschologe“, sagt sie, „da sitzen die Leute immer auf der Stuhlkante.“ Sie hatte Recht. Außerdem sah man sich hier noch weniger in die Augen als anderswo. Die ausgelegte Lektüre: Wild und Hund, Ausbildung des Pferdes an der Hand (Wo bin ich?) und eine geschmackvoll gestaltete Broschüre zum Thema richtige Ernährung bei gewissen Problemen, Titel: „Weich rein, hart raus“. Nicht schlecht. Die Hardcore-Versionen kann man sich immer am besten merken. Eigentlich sollte jetzt ein Bericht über einen Besuch beim Tierarzt folgen. Nun hatte ich aber gerade kein krankes Tier zu Hause, genauer gesagt, ich habe überhaupt keins, noch nicht mal ein gesundes. So was kommt mir nicht ins Haus, dafür bin ich bekannt. Bevor ich mir aber eins leihen konnte – ein Punk von nebenan bot mir eins an, einen Hund, der so groß ist wie ich, eine Stoffwindel um den Hals trägt und auf den Namen „Mozart“ hört – geschah etwas sehr Schönes, so dass ich leichten Herzens auf einen Tierarztbesuch verzichten konnte. In der letzten Woche stürmte ich etwas verspätet in mein Büro, wo eine Kollegin mir vorwurfsvoll einen Zettel entgegenhielt: „Eine Kundin für dich. Sie sitzt schon seit neun Uhr nebenan.“

Ich warf einen Blick auf den Namen und errötete vor Freude. Auf diesen Augenblick habe ich seit Jahren gewartet. Ich fischte einen Stern von 1989, den ich 1993 bei meinem Zahnarzt entwendet und für diesen Tag aufbewahrt hatte, aus der untersten Schublade meines Schreibtischs und drückte ihn der Kollegin in die Hand: „Den gibst du ihr – ich habe noch zu tun!“ Beschwingt verließ ich den Raum in Richtung Cafeteria. Frauensolidarität hin, Frauensolidarität her – die Kundin war die Frau meines Zahnarztes. FANNY MÜLLER