Auf Bärenpirsch

Wokpfannengroße Spuren im Pulverschnee, kreischende Raben, kalte Füße und die Angst vor der großen, braunen Masse: Vier Tage kalkulierbares Abenteuer im schwedischen Norden

von REINHARD WOLFF

Der Morgen des vierten Tages. In ein paar Stunden wollen wir wieder aufbrechen. Zurück in die Stadt. Ich weiß nicht, warum ich schon wach geworden bin. Schäle mich aus dem Daunenschlafsack. Eiskalt der Fußboden. Schleiche zum viereckigen Guckloch. Bingo. Es muss irgendein Knacken gewesen sein, das mich geweckt hat. Eine große braune Masse schiebt sich zwischen die Kiefern hindurch. Auf die kleine Lichtung, wo die ersten Strahlen der aufgehenden Aprilsonne ihn deutlicher beleuchten. Soll ich die anderen drei wecken, die noch fest in ihren Schlafsäcken auf den Rentierfellen schlafen? Erst ein Foto. Dann wecken.

Die Kamera liegt griffbereit auf dem Absatz neben dem Guckloch. Warum zittere ich jetzt? Es ist nicht die Kälte. Besonders dick ist sie ja nicht, diese Plywood-Wand zwischen mir und dem vielleicht dreihundert Kilo schweren Bären. In Disneys Zeichentrickfilmen zertrümmern wütende Grizzlys so was ja locker. Es sind nicht mehr als zehn Meter. Mir ist, als ob sich im Sucher unsere Blicke treffen. Vielleicht hat er eine Bewegung gesehen oder einen Lichtreflex. Vielleicht war ich auch nicht leise genug. Die Masse galoppiert davon. Bären können unglaublich schnell sein. Vor allem, wenn jemand glaubt, sie beim Morgenausflug stören zu müssen, und auch noch fotografieren will.

Gesammelt hatte sich unsere Gruppe vor vier Tagen bei Filip Hedberg in Bollnäs, in der schwedischen Provinz Hälsingland. 280 Kilometer nördlich von Stockholm. Da gibt es Bären, und Filip war der Erste, der auf die Idee kam, Bärensafaris zu organisieren. „Wenn wir uns hier auf dem Land auch in Zukunft ernähren wollen“, sagt er, „müssen wir uns dessen bedienen, was wir vor der Haustür haben. Und hier sind das eben Bären.“ Unser erstes Nachtquartier ist eine Blockhütte. Zur Einstimmung sozusagen, bevor wir zwei Nächte im eigentlichen „Bärenversteck“, einer Koje, verbringen werden. Wir, das sind außer Filip und mir noch Irma aus Stockholm, die „schon immer mal einen wilden Bären sehen“ wollte, und Rolf, Rentner aus Göteborg. Mehr als drei TeilnehmerInnen soll die Safari nicht umfassen, hat Filip Hedberg herausgefunden: „Sonst wird es zu eng im Versteck und zu unruhig.“ Man hat in letzter Zeit wiederholt von Bären gelesen, die so viel an ihrer natürlichen Vorsicht und Scheu verloren haben, dass ihre nächtlichen Besuche in Gärten, Komposthaufen und auf Wohnhausterrassen so aufdringlich und gefährlich wurden, dass man sie erschießen musste. Doch die Bären, mit denen wir es hier draußen zu tun haben werden, seien ausgesprochen scheu, erzählt Filip. Im neu gefallenen Aprilpuderschnee zeigt er uns die Spuren, die beweisen, dass sie wirklich ganz in der Nähe sein müssen. Zwischen vielen Elch-, noch mehr Hasen- und einigen Fuchs- und Dachsspuren sind die großen Tatzen. Respekt einflößend groß. Wokpfannengroß.

Filip versucht uns zu erklären, wie wir an Vogelstimmen erkennen können, dass ein Bär in der Nähe ist. Eine Art Warnruf pflanze sich durch den Wald fort, wenn ein Bär unterwegs sei. Wen warnen sie? Vögel müssen wohl nichts befürchten? Am nächsten Morgen finden wir große Tatzenspuren nur wenige Meter von unserem Blockhaus entfernt im Schnee. Hätten wir nur etwas besser Ausschau schon in dieser Nacht gehalten, statt, von Rentierfleisch, scharf gewürzten Würsten, Tee und Bier müde geworden, fest zu schlafen – wir hätten vielleicht schon jetzt „unseren“ Bären gesehen. Und dabei sind wir noch gar nicht im richtigen Bärenversteck. Es beginnt viel versprechend. Massen von Bären warten offenbar auf uns. Massen! Schon möglich, dass sie warten. Ganz sicher, dass sie uns registriert haben. Aber wann lassen sie sich endlich blicken? Mehrfach schon haben die Raben jenes spezielle Warnkonzert veranstaltet, das laut Filip das Nahen eines Bären bedeuten kann. Kann. Es huscht auch etwas vor den Gucklöchern vorbei. Ein Fuchs.

Ganz viel lernen wir über verschiedene Vögel und fast alles über Raben auf dieser Bärensafari. Dass der Rabengesang für Bären etwa gleichbedeutend mit diesem unvergesslich in die Gehirnzellen eingebrannten speziellen Klingelton ist, der uns Dorfkindern signalisierte, dass der „Eismann“ mit seinem Lieferwagen sich näherte und man auf dem Platz vor der Kirche gleich Eistüten für zehn Pfennig kaufen konnte. Jahrzehnte her. Jahrzehnte vergessen. Im langen Warten und langen Sinnen in der Waldkoje plötzlich ganz präsent. Die Raben signalisieren den Bären nicht „Eismann“, aber „leckere Sachen“. Unergründlich, ob sie das wollen oder es nur ihre Geschwätzigkeit ist. Im Ergebnis sind sie jedenfalls so etwas wie eine Essensuchtruppe für Gevatter Petz. Und eine Art Leibwächter. Ihr Blick ist genauso scharf wie sprichwörtlich. Die kleinste Bewegung mit unseren Kameraobjektiven in den Guckhöhlen – und mit einem Riesenkonzert verschwindet die Rabenschar. Und damit alle Bären, die irgendwo in der Nähe gewesen sein mögen. Sind die Raben verschwunden, lohnt sich der ermüdende Blick aus dem Bärenversteck auf die Baumgruppe, die man mittlerweile auswendig detailgetreu aufmalen könnte, nicht mehr.

Im Schlafsack ist es warm. Außerhalb gemischt. Am Boden und damit an den Füßen fast Frost. Nachts kriecht der Frost höher. Dann sind auch die Reste des Abendtees in den Bechern auf dem Tisch zu einem Klumpen gefroren. Tagsüber wird es in Kopfhöhe schon mal bis zu zwanzig Grad warm. So um die Nachmittagszeit, wenn Sonne draußen und Eigenwärme drinnen das Ihre getan haben. Langsam wird klar, warum Filip nicht mehr als drei TeilnehmerInnen auf einmal will. Unsere Vierergruppe scheint ideal. Gekocht wird auf dem Spirituskocher. Der Essensvorrat ist mehr als reichlich und ausgesprochen vielfältig. Leben wie Gott in Frankreich? Leben wie im Bärenversteck! Natürlich schleicht sich die Langeweile hoch, wenn wieder ein paar Stunden lang absolut nichts passiert ist. Aber es ist eine spezielle Langeweile. „Eine gleichzeitig spannende und herrlich entspannende Langeweile“, bringt es Irma treffend auf den Punkt: „Und seelenreinigend.“ Und es ist viel schwerer, so richtig mucksmäuschenstill zu sein, als wir uns das alle vorher vorgestellt hatten.

Die Bären? Nein, vergessen haben wir sie nicht. Zumal Filip die Spannung am Leben hält: „Bären sind völlig unvorhersehbar. Ein Bär sucht sich immer neue Wege, immer neue Uhrzeiten. Nicht wie ein Elch, den man fast auf die Viertelstunde genau am gleichen Platz zur gleichen Zeit treffen kann.“ Gerade als wir uns entschlossen haben, uns zur letzten Nachtruhe zu betten, winkt uns Filip zum Guckfenster. Er hat eine Bewegung in seinem Nachtfernrohr gesehen, das irgendwie aus russischen Armeebeständen den Weg ins schwedische Hälsingland gefunden hat. Im künstlich grünen Licht fackeln nicht wie auf CNN-Bildern Raketen über den Himmel, sondern eine große, eindeutig bärenhafte Silhouette hebt sich gegen den Schneehintergrund ab. Der Mond beleuchtet ihn undeutlich, er macht ein paar Schritte hin und her. Misstrauisch? Hat er unsere Geräusche gehört, die wir doch gar nicht machen? Oder fühlt er ganz einfach unsere Nähe? Er verschwindet ganz schnell wieder. Hellwach geworden, nutzt es nichts, wie lange wir uns auch abwechselnd die Augen ausgucken. Er bleibt verschwunden.

Auf dem Weg zurück in die Zivilisation sehen wir Kratzmale an den Bäumen von Bärentatzen. So, als wolle da jemand signalisieren: Das ist mein Wald! Womit er voll und ganz Recht hat.

Filip Hedbergs Bärensafari gibt’s bei „Sweden Wildlife Safari“ in Bollnäs. Ein Viertagespaket einschließlich Verpflegung kostet knapp 5.000 Kronen (rund 550 Euro), eine siebentägige Safari – beispielsweise für Naturfotografen – 13.000 Kronen (rund 1.450 Euro). Bollnäs kann man in drei Stunden per Zug oder Auto von Stockholm erreichen. Kontakt: Sweden Wildlife Safari, Renskullen 21, SE 82150 Bollnäs, Fon (00 46) 27 81 00 88; www.swedenwildlifesafari.com. Kürzere Bärensafaris in Schweden bietet Orsa Björnpark in Orsa, Provinz Dalarna, an. Fon (00 46) 25 04 62 00; www.orsa-gronklitt.seReinhard Wolff ist Skandinavienkorrespondent der taz