Unsanfte Landung

Die erfolgsverwöhnte Berliner Tourismusbranche muss seit dem 11. September deutliche Rückgänge verkraften. Experten setzen auf nahe Märkte und rechnen mit Erholung in der zweiten Jahreshälfte

von RICHARD ROTHER

Friedrichshain, Grünberger Straße, zwei Uhr nachts: Aus einem Imbiss schwanken, ein wenig drunk food in der Hand, ein paar englische Twens. Sie tun, was junge Leute in dieser Situation zu tun pflegen: Sie kichern, schäkern miteinander, reißen Zoten. Das Entscheidende aber ist: Sie finden Berlin cool. Hier gibt es keine Sperrstunde, die Leute sind nett, und das Bier ist billig. Am nächsten Tag wollen sie noch zwei, drei Bars in der nahen Simon-Dach-Straße ausprobieren, in denen sie noch nicht gezecht haben. Dann verschwinden sie im Odyssee Globetrotter Hostel, ihrer wohl verdienten Nachtruhe entgegensehend.

Eine Krise im Geschäft mit den Friedrichshainer Rucksacktouristen kann Jörg, ein junger Mann am Tresen im „Odyssee“, nicht erkennen. „Bei uns ist eigentlich alles wie immer.“ Im Winter sei ohnehin weniger los, aber an diesem Wochenende sei man fast ausgebucht. Dass immer weniger Amerikaner nach Berlin kommen, hat Jörg im „Odyssee“ noch nicht beobachtet.

Ausnahmen bestätigen die Regel. Die Folgen der globalen Wirtschaftsflaute und der Terroranschläge vom 11. September machen der Tourismusbranche weltweit zu schaffen – auch Berlin ist davon nicht verschont geblieben, das in den vergangenen Jahren immer mehr auf das Geschäft mit den Reisenden setzte. Nachdem die Branche jahrelang wuchs – fast schon eine rühmliche Ausnahme in der wirtschaftsschwachen Stadt –, gab es 2001 einen deutlichen Rückgang. Die Zahl der Gäste sank um 1,5 Prozent – aufs gesamte Jahr gerechnet.

Nach dem 11. September jedoch gab es einen Einbruch, von dem sich die Branche nur langsam erholt. So sank nach Angaben des Statistischen Landesamtes die Zahl der Gäste im Dezember 2001 immer noch um 8,7 Prozent – im Vergleich zum Vorjahresmonat. Aus den USA ließen sich gar 20 Prozent weniger Gäste blicken; erhebliche Rückgänge waren auch bei den Gästen aus Israel (minus 23 Prozent) und Japan (minus 31 Prozent) zu verzeichnen. Der Chef der Berlin Tourismus Marketing-Gesellschaft (BTM), Hanns Peter Nerger, wäre denn auch froh, wenn Berlin in diesem Jahr „das Vorjahresergebnis in etwa halten könnte“.

Dennoch ist Berlin immer noch das beliebteste Reiseziel Deutschlands, und auch im internationalen Vergleich braucht sich die Stadt nicht zu verstecken: Berlin liegt in Europa nach wie vor auf Platz vier – hinter London, Paris und Rom. Mit rund 11 Millionen Übernachtungen jährlich hat die Hauptstadt schon fast römisches Niveau erreicht, obwohl unterschiedliche Zählmethoden einen direkten Vergleich erschweren. Nur so viel ist klar: Auch die anderen europäischen Metropolen leiden unter der Tourismusflaute, aufgrund eines höheren Anteils ausländischer Gäste sogar noch stärker als Berlin. So sank im vergangenen Jahr nach Angaben des London Tourist Board die Zahl der Besuche an der Themse um 7 Prozent. Bürgermeister Ken Livingstone stellte daraufhin sogar kurzfristig 4 Millionen Pfund zur Verfügung, um die Tourismusindustrie zu unterstützen.

Die Wege, wie Berlin und London es aus der Krise schaffen wollen, unterscheiden sich kaum. Beide wollen nun ihre Werbe- und Marketinganstrengungen noch einmal erhöhen. „Wir werden unsere Kontakte in die USA weiter pflegen“, betont BTM-Sprecherin Natascha Kompatzki. Der Wunsch vieler Amerikaner, nach Berlin zu kommen, sei schließlich immer noch da.

Gleichzeitig konzentrieren sich die Berliner Tourismuswerber nun aber auf die nähere Umgebung – Länder, aus denen die Gäste auch ohne Flugzeug schnell an die Spree kommen können. Im Dezember gab es zum Beispiel schließlich Zuwächse aus Polen, Ungarn und den Niederlanden. Kompatzki: „In der zweiten Jahreshälfte rechnen wir mit einer Erholung.“ Die Londoner Tourismuschefin Teresa Wickham geht sogar davon aus, dass die Branche in diesem Jahr wieder leicht wächst. Immerhin 275.000 Londoner verdienen ihre Sandwiches mit den Gästen.

Auch in Berlin hat die Bedeutung des Tourismus deutlich zugenommen: Rund 66.000 Menschen sind in der Branche beschäftigt, 1998 waren es noch 46.000. Im Jahr 2000 erwirtschafteten die Tourismusunternehmen rund zehn Milliarden Mark Umsatz.

Der jahrelange Boom könnte aber demnächst zum Bumerang werden. Innerhalb eines Jahrzehnts hat sich die Zahl der Betten in Berlin nahezu verdoppelt – und noch immer werden neue Hotels gebaut und geplant. In ein paar Jahren stehen rund 75.000 Betten zur Verfügung. BTM-Sprecherin Kompatzki: „Die muss man erst einmal belegen.“ Erholt sich die Branche nicht, drohen der Stadt nicht nur leere Büro- und Plattenbauten, dann müssen auch leere Hotels verkraftet werden.

Jörg aus dem Friedrichshainer „Odyssee“ hat diese Sorge nicht. Die Backpacker würden trotz des 11. Septembers weiter nach Berlin kommen. Seine Begründung ist so einfach wie sympathisch: „Ich würd ja auch in Urlaub fliegen.“