Reform statt Revolution

Globale Gerechtigkeit kann man nur mit globalen Organisationen wie Weltbank und Welthandelsorganisation erreichen. Voraussetzung: Sie müssen demokratisiert werden

Nur ein transnationales Staatswesen kann die bürgerlichen und sozialen Rechte für alle Menschen wahren

Die globalisierungskritische Bewegung könnte ihre erste große Debatte führen. Doch sie will nicht. Beim Weltsozialforum im brasilianischen Porto Alegre vermieden es die Vordenker beider Seiten die meiste Zeit, die Kontroverse auszutragen. Symptomatisch war, wie Susan George, Cheftheoretikerin des Netzwerks Attac aus Paris, die offenkundigen Widersprüche im harmonischen Konsens der Bewegung aufzulösen versuchte. Es überwog wohl die hinter dem Lob der Vielfalt versteckte Angst, die heterogene Bewegung könnte sich zerstreiten.

Doch die schwelende Auseinandersetzung wird die Kritiker der Globalisierung begleiten, wo sie sich auch treffen – ob beim EU-Gipfel im spanischen Barcelona am Wochenende oder bei der bevorstehenden UNO-Entwicklungshilfekonferenz im mexikanischen Monterrey. Die Debatte muss geführt werden.

Nicht nur über die politische Praxis der Globalisierungskritiker, sondern auch über ihre Vision einer besseren Welt besteht Dissens, seit der philippinische Soziologe Walden Bello das Konzept der „Deglobalisierung“ propagiert. Der Sprecher des einflussreichen Think-Tanks „Focus on the Global South“ sagt zwar immer, dass er gegen die weltweite Vernetzung grundsätzlich nichts einzuwenden habe, plädiert jedoch trotzdem dafür, dass sich Staaten oder Weltregionen teilweise aus dem Prozess der Globalisierung ausklinken sollten. Ganz anders klingen die Vorstellungen, die die europäische Organisation in ihrem Papier „Attac au Zénith – Manifest 2002“ formuliert hat. Die Pariser Globalisierungskritiker sind dagegen, aus dem fahrenden Zug auszusteigen, sondern wollen ihn auf ein anderes Gleis lenken. Das wichtigste Schlagwort im Attac-Papier ist das der „Demokratisierung“ der internationalen Institutionen wie zum Beispiel der Weltbank. Letztlich geht es in dem Konflikt um die Frage: Wollen wir eine Weltregierung und wenn ja, was für eine?

Im Augenblick haben Walden Bello und seine Mitstreiter die besseren Karten. Ihr Vorschlag bedient den Wunsch vieler Aktivisten nach einem revolutionären Gestus und dem radikalen Bruch mit dem als ungerecht empfundenen Welthandelssystem. Dabei wäre es fatal, wenn das Attac-Manifest unterginge – transportiert es doch die Idee des europäischen Verfassungsstaates auf Weltniveau.

Damit hat Bello nicht viel im Sinn. Während Attac fragt: „Wie können die Menschen Einfluss auf die großen internationalen Organisationen gewinnen?“, sucht Bello die Antwort auf die Frage: „Wie können wir diese Organisationen loswerden?“ Der Internationale Währungsfonds (IWF), die Weltbank und die Welthandelsorganisation (WTO) sind für ihn die Wurzeln allen Übels – Organisationen, die es zu bekämpfen und abzuschaffen gilt. Sie betrachtet er als Vorkämpfer der neoliberalen Globalisierung, mit denen es keinen Kompromiss und keine Zusammenarbeit geben dürfe. Stattdessen fordert Walden Bello, die Weltpolitik zu re-regionalisieren: Möglichst viel solle man auf der Ebene der Nationalstaaten oder höchstens noch regionaler Bündnisse wie der Europäischen Union regeln. Den Verfechtern der Deglobalisierung geht es darum, aus dem System des globalen Marktes Freiräume herauszubrechen, in denen sie die Logik des Liberalismus zumindest teilweise ersetzen wollen durch das Primat der gesellschaftlichen Regulierung.

Attac setzt einen anderen Akzent. Das Manifest macht ein „demokratisches Defizit“ sowohl in der Europäischen Union als auch bei den internationalen Organisationen aus und ruft auf, dieses zu beheben. Den europäischen Globalisierungskritikern fällt auf, dass die politischen Vertreter etwa Deutschlands Sitz und Stimme im IWF, der Weltbank, der WTO haben, dort aber machen, was sie wollen. Laut Attac handeln die Politiker „in einer dunklen Zone der Demokratie“, weil sie der Bevölkerung ihres Landes für ihr Handeln auf internationaler Ebene weder Rechenschaft ablegen müssen noch von ihr beeinflussbar sind. Attac geht es im Gegensatz zu den Deglobalisierern nicht darum, den IWF abzuschaffen, sondern ihn zu demokratisieren.

Zwei gleichermaßen weltfremde Strategien? Nein. Das Attac-Konzept enthält mehr Realismus, mehr praktische Möglichkeit, etwas an der herrschenden Politik zu ändern. Denn Bello und seine Mitstreiter verweigern sich dem Prozess der Globalisierung. Der aber wird auch ohne ihre Einmischung ablaufen, nur noch radikaler und zerstörerischer. WTO & Co. machen nicht den Eindruck, als ließen sie sich schnell von ihrer Linie abbringen. In Katar haben sie unlängst erst eine neue Welthandelsrunde, einen neuen Schub der Liberalisierung beschlossen. Darauf muss man Einfluss nehmen – indem man die Delegierten der nationalen Regierungen unter Druck setzt, ihr Verhalten in den Verhandlungen öffentlich macht und ihre Legitimation in Frage stellt, das gemeinsame Erbe der Menschheit an private Konzerne zu verkaufen. Das kann funktionieren: Ohne Interventionen der Kritiker beim Verhandlungsprozess hätten die WTO-Staaten in Katar niemals beschlossen, die Medikamentenpatente der Pharmakonzerne teilweise aufzubrechen, um etwas gegen die Aidsepidemie zu tun.

Wer auf diese Einflussmöglichkeiten verzichtet, verliert wertvolle Zeit. Daran ändert auch nichts, dass Walden Bello propagiert, ein neues System rund um die Entwicklungsorganisation der Vereinten Nationen und die Internationale Arbeitsorganisation aufzubauen, das eher den Zielen der Nachhaltigkeit und sozialen Gerechtigkeit verpflichtet wäre. Bis die Konkurrenz zur WTO stark genug ist, können Jahrzehnte vergehen – falls es überhaupt dazu kommt.

Letztlich geht es in dem Konflikt um die Frage: Wollen wir eine Weltregierung, und wenn ja, was für eine?

Doch es ist notwendig, schon in naher Zukunft einige internationale Abkommen zu schließen. Eines könnte festlegen, dass transnationale Unternehmen in allen Ländern einen einheitlichen Minimalsteuersatz zahlen. Das würde verhindern, dass sich die Wirtschaft ihren Verpflichtungen gegenüber der Gesellschaft entzieht. Ein anderer Vertrag müsste verhindern, dass die Konzerne die genetischen Informationen von Menschen, Pflanzen und Tieren patentieren und damit privatisieren. Denn diese gehören der gesamten Menschheit. Wer solche Vereinbarungen anpeilt – und das tun die Globalisierungskritiker – kommt an den großen internationalen Organisationen nicht vorbei.

Globale Gerechtigkeit setzt die Existenz weltweiter Institutionen voraus. Nur ein entstehendes transnationales Staatswesen kann die unveräußerlichen bürgerlichen und sozialen Rechte für alle Menschen garantieren. Da kommt man mit Regionalisierung à la Bello nicht weiter. Die Frage nach der Notwendigkeit einer Weltregierung beantwortet er mit „Nein, danke“. In dem Manifest von Attac lautet die Antwort anders: „Ja, wenn sie demokratisch legitimiert ist.“

Die 193 Staaten dieser Erde sind mehr als globale Dörfer, die Tagesreisen auseinander liegen und ganz gut allein zurechtkommen. Die Globalisierungskritiker sind Kinder der Globalisierung, die diese nicht zurückdrehen, sondern nur weiterentwickeln können. HANNES KOCH