„Es herrscht noch zu wenig Globalisierung“

Ist Widerstand zwecklos? Toni Negri und Michael Hardt über ihre politische Theorie eines Imperiums im Weltmaßstab, das kein Außen mehr kennt, über das neue Verhältnis von Markt und Politik, über Alternativen im System, die Kurzsichtigkeit rein lokalen Protests sowie die Potenz der Vielen

von MICHAEL BRAUN

taz: Herr Negri, Herr Hardt, Ihr gemeinsames Buch „Imperium“ wird viele Leser überraschen, die sich womöglich eine Streitschrift mit dem Thema USA, ein Pamphlet gegen die einzige verbliebene Weltmacht erwartet haben …

Toni Negri: Es geht mir mittlerweile auf die Nerven, dass von unserem Buch behauptet wird, es sei nicht antiamerikanisch. Es ist weder anti- noch proamerikanisch. Wenn wir sagen, dass der Ort, von dem die imperiale Herrschaft ausgeht, ein Nicht-Ort ist, dass er eben kein Nationalstaat ist, dann darf diese Negierung ihrerseits nicht in ein positives Urteil umgedreht werden. Natürlich schließen wir keineswegs aus, dass die Amerikaner Sachen anstellen, die mehr als unschön sind.

Michael Hardt: Zum Antiamerikanismus ist zweierlei zu sagen. Erstens tendiert er dahin, die USA komplett auf einen Nenner zu bringen und damit zugleich auch die positiven, demokratischen Traditionen des Landes zu negieren. Andererseits aber tendiert er auch dahin, gnädiges Schweigen über andere Mächte auf dieser Welt zu breiten. Unser Buch kann durchaus als antiamerikanisch gelesen werden, aber es reicht eben nicht, gegen die Vereinigten Staaten zu sein. Unser Buch ist genauso antifranzösisch, antiitalienisch, antiindonesisch.

Imperium – das erinnert sofort an Imperialismus. Dennoch dementieren Sie entschieden, die x-te Imperialismustheorie vorgelegt zu haben.

Toni Negri: Der Imperialismus war ein Geschöpf der Nationalstaaten, und er bewegte sich entlang von Freund-Feind-Definitionen, da es ja jeweils andere Imperialismen gab, die opponierten. Nach innen lebte der Imperialismus von der Verherrlichung der Tradition der staatlichen Souveränität, und nach außen war er eine Form des Exports von Macht, von Kultur, von wirtschaftlichen Interessen, ein Export, der natürlich den Anderen zerstörte.

Der Imperialismus unterscheidet sich deshalb grundlegend von der neuen Form der Macht, die sich als ein Zusammen von Formen der Beherrschung darstellt. Das Imperium begreift ein Bündel sehr unterschiedlicher Herrschaftstechniken in seiner „Governance“ ein, in diesem kontinuierlichen Strom der Herrschaft, die es überall ausübt. Es ist eine dynamische Form, vor allem aber eine alles vereinende Form, das kein Außerhalb mehr kennt.

Was heißt das – es gibt kein Außerhalb mehr?

Michael Hardt: Es heißt ganz gewiss nicht, dass das Drinnen homogen verfasst wäre. Auch heute leben in der Welt Differenzen fort, die genauso wichtig sind wie früher, Differenzen in der Macht, im Reichtum usw. Aber diese Differenzen sind heute im Inneren eines Herrschaftssystems eingeschlossen.

Zugleich meinen wir mit der Aussage, es gebe kein Außerhalb mehr, ganz gewiss nicht, dass keine Alternative mehr existiert. Aber die Alternative entsteht aus dem Inneren des Imperiums heraus. Statt eines Außerhalb, das widersteht, haben wir heute ein produktives Innerhalb. Widerstand ist heute kein tauglicher Begriff mehr für die Schaffung einer Alternative.

Toni Negri: Wir gehen dabei von einer Konzeption des Seins aus, der Existenz. Und das ist keine Konzeption, die auf das Elend des Seins abhebt, sondern auf seinen Reichtum. Manche werfen uns zum Beispiel vor, dass wir den Begriff des Exodus gebrauchen. Der habe doch gar keinen Sinn mehr, wenn das Imperium kein Außerhalb mehr kennt. Das ist es ja eben: Gerade dann hat der Exodus, haben die Wanderungen der Menschen eine neue Potenz.

Das Gleiche gilt für die Befreiung: Es habe keinen Sinn mehr, von ihr zu reden, wenn es kein Außerhalb mehr gebe. Wir meinen dagegen, dass die Befreiung die Hervorbringung von etwas anderem, etwas Mächtigem im Inneren dieses Rahmens ist. Wir verfolgen damit eine Philosophie vollkommener Immanenz.

„Imperium“ ist also kein „No Global“-Buch?

Toni Negri (lacht): Das kann man so sagen, wenn man die Anführungsstrichelchen weglässt. Wir haben ein Global-Buch geschrieben, aber es ist zugleich „No Global“, wenn wir mit dem Terminus die Bewegung der Globalisierungskritiker meinen.

Auf jeden Fall aber beurteilen wir Formen des lokalistischen Widerstands gegen die Globalisierung als rein reaktiv; sie reagieren auf die Schaffung dieser neuen Welt des Imperiums, ohne Auswege angeben zu können, die hin zu mehr Freiheit für alle führen.

Michael Hardt: Wir wollen unterstreichen, dass heute nicht ein Zuviel, sondern ein Zuwenig an Globalisierung existiert. Die heutige Globalisierung stößt an enge Grenzen. Man muss die Macht globalisieren, den Reichtum, die Bewegungsmöglichkeiten für die Arbeitskräfte. Globalisierung allein heißt eben gar nichts. Natürlich sind wir gegen die aktuelle Form der Globalisierung, aber auch gegen eine lokalistische oder nationalistische Linke, die argumentiert, man müsse einem global agierenden Kapital lokalen Widerstand entgegensetzen oder man müsse gegen ein die nationale Souveränität zersetzendes Kapital die Nation verteidigen.

Sie beanspruchen mit Ihrem Buch, Globalisierung nicht bloß auf der Oberfläche zu beschreiben, sondern auch die letztlich für die heutigen Veränderungen konstitutiven Formen der Produktion und der Reproduktion zu erfassen. Zwei Begriffe, die dabei immer wieder auftauchen, sind „Bio-Politik“ und „Bio-Macht“.

Toni Negri: Die Globalisierung, verstanden als reine Ausdehnung der Märkte, ist so alt wie der Kapitalismus. Das vollkommen neue Element unseres Buches – das uns auch viel Kritik einhandelt, da wir angeblich zu wenig von der Ökonomie reden – ist die These, dass es den Markt ohne die Politik nicht gibt, dass beide im Gleichklang marschieren. Das galt früher, als sie sich parallel bewegten, als zwei gegenüber anscheinend externe Größen.

Aber zunehmend hat die kapitalistische Entwicklung zu einer weitgehenden gegenseitigen Durchdringung zwischen den Elementen politischer Lenkung und den konstitutiven Elementen des Marktes geführt. Und dieses Gemisch betrifft zunehmend nicht nur die Individuen, die nicht mehr bloß diszipliniert werden, sondern die Bevölkerungen, die sich als Akteure des Produktions- wie des Reproduktionsprozesses umfassender Kontrolle unterworfen sehen.

Hinzu tritt ein weiteres zentrales Element: Die Unterscheidung zwischen dem Arbeitstag – den acht der Produktion gewidmeten Stunden – und dem Leben – sprich den anderen 16 Stunden –löst sich zunehmend auf. Auch hier gibt es kein Außerhalb mehr, und dies meinen wir mit Bio-Politik: Die Unterscheidung zwischen Produktion und Leben verschwindet.

So wie Sie das kapitalistische System in veränderten Termini beschreiben, so führen Sie einen neuen Terminus für die Kraft der Veränderung ein. Manchmal noch taucht der Begriff „Proletariat“ auf, meist aber reden Sie von „Vielheit“ „multitude“. Wer ist das?

Michael Hardt: Wenn wir Proletariat in weitem Sinne auffassen – als alle die, die arbeiten – dann sind wir bei der Vielheit. Ich möchte die Wahl dieses Begriffs aber auch aus amerikanischer Sicht erklären.

Spätestens seit den Achtzigerjahren haben wir mit zwei Formen politischer Organisation zu tun. Die eine basiert auf einer umfassenden Identität; das sind vor allem die unitarisch oder hierarchisch verfassten Parteien. Die andere, seit den Achtzigern entstandene Organisationsform basiert dagegen auf der Politik der Differenz, will jeder Gruppe ihren spezifischen Ausdruck verschaffen.

Diese Alternative zwischen Identität und Differenz ist unserer Meinung nach eine Sackgasse. Wir wollen dieser Alternative mit dem Begriff der „Vielheit“ ausweichen: das ist die Vielfalt, die zu gemeinsamem Handeln findet. Eben dies tun meines Erachtens die Bewegungen nach Seattle. Sie organisieren sich in dieser Weise und entfliehen der Alternative Identität–Differenz.

Toni Negri: In Italien ist in vielen Städten ein „Social Forum“ entstanden; da finden jeweils ganz unterschiedliche Identitäten zusammen. Wir finden Gewerkschafter, Vertreter der Arbeiterklasse also, neben Umweltgruppen, neben Gruppen, die gegen die Ausländergesetzgebung kämpfen, und so weiter.

Aber wir haben „Vielheit“ noch aus einem weiteren Grund gewählt. Traditionell steht „Proletariat“ für die Klasse der Ausgeschlossenen, wir dagegen wollen die Potenz der Vielen unterstreichen. Die Vielen vermögen sehr viel, auch wenn sie materiell womöglich äußerst arm sind, schlicht weil sie in die bio-politischen Mechanismen der Reproduktion der Welt eingebunden sind. Deshalb sehen wir den Überfluss, den Reichtum an Imagination, an Gefühl, an Fähigkeit sich zu bewegen – das ist für uns ein erstrangiges Element.

Vielen werden die Schlusskapitel des Buchs, in denen Sie die Szenarien der Veränderung darlegen, recht utopisch erscheinen. Meinen Sie nicht?

Michael Hardt: Zunächst einmal ist es sehr positiv, dass die Linke wieder beginnt, utopisch zu denken – sprich zu denken, dass eine Alternative möglich ist – und die existenten Möglichkeiten zu erblicken, statt in der Welt immer nur die gegen uns ausgeübte Übermacht aufzuspüren und sich dann zu arrangieren.

Toni Negri: Unser Buch ist alles andere als utopisch – die Vorschläge, die wir machen, sind mehr als realistisch.

Wenn wir zum Beispiel von der Notwendigkeit eines universellen Bürgerrechts reden, verweisen wir auf das Flüchtlingsdrama, das sich in den Meeren rund um Italien abspielt. Wenn wir ein gesellschaftliches Grundeinkommen fordern, dann sprechen wir ganz einfach von der verbreiteten Arbeitslosigkeit und von den kontinuierlichen Versuchen, die Arbeitskosten zu drücken, gegen das alte, dreckige Spiel des Kapitals, die Leute auf ein Hungerniveau runterzubringen. Und wenn wir davon reden, dass das Eigentum immer mehr zu einer gemeinschaftlichen Angelegenheit wird und dass wir es uns in seinen neuen Formen wieder aneignen müssen, dann reden wir von etwas, das auch dem Internetnutzer jeden Tag präsent ist.

Das alles hat mit Utopie nichts zu tun – lassen Sie uns die Zeit für unser nächstes Buch, um dann unsere Utopie zu Papier zu bringen.