Gipfel der Gesten

Ein Beschluss für alle, ein Kompromiss für Frankreich, viele schöne Worte: Heimische Wahlen bestimmen den EU-Gipfel

aus Barcelona REINER WANDLER

Zum Schluss waren doch noch alle zufrieden – oder sie taten wenigstens so: „Ein fundamentaler Schritt“, freute sich Spaniens Regierungschef José María Aznar, der zurzeit die EU-Präsidentschaft innehat. „Die Richtung stimmt“, bestätigte der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder. Und Frankreichs Präsident Jacques Chirac schwärmte von einer „ausgeglichenen Lösung“. Auch Großbritanniens Ministerpräsident Tony Blair schwelgte in Lob, bis ihm zum Schluss dann doch noch die realistische Gipfel-Einschätzung kam: „Begrenzt, aber solide.“ Ja, so war’s wohl. Die 15 EU-Mitglieder, die erstmals unter Anwesenheit der 13 Mitgliedskandidaten tagten, hatten sich nach zwei Tagen im Streit um die Liberalisierung des Energiemarkts immerhin auf einen Kompromiss einigen können und den Aufbau des Satellitenortungssystems „Galileo“ beschlossen, des bislang teuersten Einzelprojekts der EU (siehe Kasten).

Die Strom- und Gasversorgung wird bis 2004 liberalisiert. Die Kunden können dann frei auswählen, wer sie beliefert. Der Haken: Dies gilt nur für gewerbliche Abnehmer, rund 60 Prozent des Marktes. Die Haushalte müssen warten. „Im Lichte der Erfahrungen“ soll nach der Öffnung des gewerblichen Marktes erneut beraten werden, heißt es im Abschlusspapier.

Der Beschluss ist ein Erfolg für Paris, das immer wieder betont hatte, sich nicht vom Staatsmonopol als öffentlichem Dienstleister trennen zu wollen. Mit dem Kompromiss aus Barcelona können sowohl Frankreichs Staatschef Chirac als auch sein Herausforderer bei den Präsidentschaftswahlen, Premier Lionel Jospin, im kommenden Monat beruhigt vors Wahlvolk treten. Die beiden Konkurrenten ums Amt des Premiers zogen am Wochenende in Barcelona im nationalen Interesse am selben Strang, vermieden aber möglichst jeden Kontakt.

„Nach dieser Ratssitzung ist der wirtschaftliche und soziale Reformprozess nicht mehr aufzuhalten“, resümierte Aznar nach dem Gezerre im Namen der spanischen EU-Präsidentschaft beruhigt. Die Talsohle der wirtschaftlichen Rezession sei durchschritten. Der Aufschwung habe eingesetzt. Dies soll jetzt genutzt werden. Die vollständige Integration des Transportwesens und der Finanzdienstleistungen wird angestrebt, das Breitbandnetz fürs Internet wird ausgebaut. „Europa soll bis zum Jahre 2010 die wettbewerbsfähigste Region weltweit werden“, bekräftigte nicht nur Aznar unaufhörlich.

Einmal mehr war die Rede von der unionsweiten Vollbeschäftigung bis zum Jahr 2010. Die Beschäftigungsrate soll allein in diesem Jahr noch um 6 Punkte auf 70 Prozent steigen. Die Flexibilisierung des Arbeitsmarkts soll dies ermöglichen. Doch auch hier gehen die Meinungen auseinander. Viele konservative Regierungen, darunter auch die Aznars, wollen den Kündigungsschutz weitgehend abschaffen. Dies soll einen Impuls für die Beschäftigungspolitik bringen. Der extrem liberale Arbeitsmarkt in den USA dient als Vorbild.

„Das ökonomische und soziale Modell Europas unterscheidet sich von anderen“, hielt Schröder – bekanntlich ebenfalls Wahlkämpfer – dagegen und warnte: „Flexibilität ist ein Teil, das andere ist die Sicherheit und Planbarkeit auch für die Familien abhängig Beschäftigter.“

Der Bundeskanzler war sichtlich verstimmt nach Barcelona gereist. Auch er hat Sonderwünsche und kriegt Probleme damit. In den vergangenen Monaten war die Bundesregierung immer wieder mit der EU-Kommission aneinander geraten. Streitpunkte waren die Vorstöße der Kommission, den Kfz-Verkauf zu liberalisieren, um das Monopol der Vertragshändler zu brechen. Ein anderes strittiges Thema ist das Bestreben, ein neues Umweltrecht zu schaffen, das – so fürchtet Schröder – der deutschen Chemieindustrie schaden könnte. Hinzu kam der blaue Brief aus Brüssel, der Deutschland wegen seiner hohen Staatsverschuldung abmahnte. Am Rande des Gipfels traf sich Schröder mit dem Kommissionspräsidenten Romano Prodi, um ihm „klar zu machen, dass wir eine differenzierte Produktionsstruktur brauchen“. Der Bundeskanzler lud einen Teil der Kommission nach Berlin ein, um dann einmal mehr die deutschen Interessen in der Industriepolitik klar zu machen.