„Neue Dimension von Gewalt“

Nach dem Sprengstoffanschlag auf den Jüdischen Friedhof in Charlottenburg fordert die Jüdische Gemeinde einen besseren Schutz solcher Einrichtungen. Die Zahl antisemitischer Straftaten hat sich innerhalb eines Jahres nahezu verdoppelt

von HEIKE KLEFFNER

48 Stunden nach dem Anschlag auf den Jüdischen Friedhof in Charlottenburg hält der polizeiliche Staatsschutz „einen rechtsextremistischen Hintergrund für wahrscheinlicher als eine Tat von arabischen Extremisten“. Ein Bekennerschreiben liege bislang allerdings nicht vor. Für Hinweise auf die unbekannten Täter, die am Samstagabend im Eingangsbereich des Friedhofs eine mit Sprengstoff gefüllte Stahlflasche über die Mauer warfen, wurde eine Belohnung von 5.000 Euro ausgesetzt. Gesucht wird unter anderem nach einem schwarzen Fahrzeug, das unmittelbar nach dem Anschlag in der Nähe des Friedhofs auffiel.

Die Detonation ließ im Umkreis von mehreren hundert Metern die Fensterscheiben klirren. Auf dem Friedhof wurden mehrere Fensterscheiben der Trauerhalle, Kränze sowie eine Gehweghalle zerstört. Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Berlin, Alexander Brenner, bezifferte gegenüber der taz den Sachschaden auf 3.000 bis 5.000 Euro. Brenner sprach von einer „neuen Dimension der Gewalt“. Er hoffe, dass es den Sicherheitsbehörden in diesem Fall „im Gegensatz zu den vorherigen Anschlägen“ gelinge, die Täter zu ermitteln. Darüber hinaus fordert Brenner weitere Maßnahmen zum Schutz jüdischer Einrichtungen. „Offensichtlich reichen die Präventionsmaßnahmen nicht aus.“ Brenner kritisierte im Zusammenhang mit dem Anschlag auch „eine antiisaelische Berichterstattung in einem Teil der deutschen Medien“, bei der die Grenzen zum Antisemitismus nur schwer auszumachen sei.

Auch Anetta Kahane, Mitglied der Jüdischen Gemeinde und Vorsitzende der Amadeu-Antonio-Stiftung, hat eine zunehmende Verbreitung von „antisemitischen Stereotypen bis hin zum Gespenst der jüdischen Weltverschwörung“ registriert. „Dass offener Antisemitismus wieder hoffähig wird, zieht sich durch alle Gesellschaftsschichten“, so Kahane. Mit Besorgnis beobachte die Amadeu-Antonio-Stiftung eine seit Jahresbeginn erneut eskalierende Welle von rechtsextremen Gewalttaten , die sich in der Häufung von Angriffen auf Migranten und Flüchtlinge sowie antisemitischen Mahmals- und Friedhofsschändungen zeige. Der Anschlag in Charlottenburg habe allerdings „terroristische Qualität“, so Kahane.

Unter die 455 Delikte, die die Berliner Sicherheitsbehörden im vergangenen Jahr als „rechte Straftaten“ einordneten, fallen auch 106 antisemitisch motivierte Straftaten. Den Hauptanteil haben hier Propagandadelikte. Alarmierend ist für Beobachter, dass sich die Zahl antisemitisch motivierter Delikte im Vergleich zum Jahr 2000 fast verdoppelte. Vor zwei Jahren registrierten die Behörden noch 56 antisemitische Straftaten.

Anetta Kahane geht davon aus, dass mangelnde Fahndungserfolge bei fast allen antisemitischen Anschlägen in Berlin Rechtsextremisten zu weiteren Aktionen ermutigen. Die Liste unaufgeklärter Anschläge wird in Berlin von Jahr zu Jahr länger. So gelang es den Sicherheitsbehörden bislang nicht, die Täter zu finden, die im Dezember 1998 das Grab des ehemaligen Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde von Berlin, Heinz Galinski, mit einem Sprengsatz vollständig zerstörten. Auch ein versuchter Sprengstoffanschlag auf das Grab von Heinz Galinski im September 1998 ist nach wie vor unaufgeklärt. Ähnlich entmutigend ist die Bilanz bei der Schändung des Jüdischen Friedhofs in Weißensee am 4. Oktober 1999, als Unbekannte 103 Grabsteine zerstörten. Der darauf folgende Anschlag im November 1999 auf das Lager eines Steinmetzen, der sich öffentlich bereit erklärt hatte, die zerstörten Grabsteine zu restaurieren, fällt ebenso in die Kategorie „Aktenzeichen ungelöst“ wie ein Brandanschlag auf einen S-Bahn-Waggon der Ausstellung „Jüdisches Leben in Berlin“ im September 1999.

Ähnlich ernüchternd fällt die Bilanz bezüglich der wiederholten Schändungen am Mahnmal für die deportierten Juden und Jüdinnen auf der Putlitzbrücke im Bezirk Tiergarten aus. Zuletzt waren dort im Juni 2000 Hakenkreuze eingeritzt worden. Der frühere Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Berlin, Andreas Nachama, sagte damals, es sei „eine Berliner Krankheit“, dass die meisten Mahnmalsschändungen hier unaufgeklärt blieben.