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: Gar nicht gottgegeben: „Kraft zum Leben“

Im Netz des Ehebruchs verfangen

Überall in der Stadt hängen die großen Plakate herum: „Kraft zum Leben“. Ganz für umsonst, ein Buch, einfach anzufordern per Telefon. Schlagersänger Sir Cliff Richard lächelt dafür gratis von den Litfaßsäulen, und ich musste an mein Interview mit Islands Grand-Prix-Star Páll Oskar denken. Wie wir auf dem Rasen vor seiner kleinen 20-Quadratmeter-Kellerwohnung in Reykjavík lagen, vor ein paar Jahren, und Páll stolz betonte, er sei beileibe nicht der erste schwule Sänger beim Grand Prix Eurovision. Er verdrehte seine Augen und imitierte kreischend Cliff Richard: „Power to all our friends“. Aber er, Páll Óskar aus Island, sei doch immerhin der erste offen schwule Grand-Prix-Teilnehmer.

Ob nun Cliff Richards tatsächlich eine Klemmschwester oder doch eher ein enthaltsamer heterosexueller Christ ist, spielt eigentlich keine Rolle. Seine Musik ist jedenfalls grottenschlecht und völlig belanglos – aber ausgesprochen erfolgreich. Vielleicht ist ja das Golfspiel von Bernhard Langer fantastisch, der oft schon das letzte Loch traf und ebenfalls für das 1983 erstmalig erschienene Gratiswerk von Jamie Buckingham wirbt. Oder vielleicht sind es die Billigschuhe von Deichmann, dessen Geschäftsführer Heinz-Horst Deichmann sich vorstellt, dass der erleuchtete Christ als Kerze dienen könnte, die dunkle Welt zu erhellen.

Doch wie könnte sich die Kraft zum Leben bei mir entfalten? Ich rufe an, um das Buch zu bestellen. Eine Dame begrüßt mich mit: „Guten Tag. Bitte nennen Sie Adresse und Telefonnummer.“ In der Missionszentrale kommt man offensichtlich sehr schnell zur Sache. Ich frage, ob meine Adresse irgendwie weitergegeben werde. „Nein, das bleibt alles bei uns.“ Komisch, aber wozu brauchen Sie denn dann meine Telefonnummer? „Ja, die müssen Sie nicht unbedingt angeben.“ Aber die Nachfrage nach dem Buch sei mittlerweile so groß, dass die Druckerei in den USA gar nicht mehr nachkomme. Es könne bis zu zwei Wochen dauern.

Vier Tage habe ich gewartet, und schon lag das Buch im Briefkasten. Doch beim Öffnen des Umschlags zeigt sich der nächste Trug: Es handelt sich nicht um ein Buch, das da scheinbar großzügig verschenkt wird. Es ist vielmehr eine billig gemachte, zusammengeleimte Broschüre mit dem lieblosesten Layout, das ich je gesehen habe.

Nie im Leben habe ich ein Buch mit derart breit gesperrten Wortzwischenräumen in den Händen gehalten, mit einem derart konfusen Schriftbild, ständig wechselnden Typen, fett und schmal, das totale Chaos. Und die Grafik eine einzige Katastrophe: Mittendrin leere weiße rechte Seiten, durch deren dünnes Papier ein Sonnenuntergang schimmert – das Foto der nächsten Seite. Für solch desaströse Gestaltung wäre jeder Grafiker fristlos entlassen worden. Und das widerspricht augenfällig der Einleitung, die von einer Gruppe „beruflich äußerst erfolgreicher Menschen“ berichtet, die im Gegensatz zur beschriebenen Raumfähre „Columbia“ nicht abstürzen, sondern „oben bleiben“.

Denn „diese Menschen sind keine Metallkästen“, die früher oder später vom Himmel fallen. „Sie schweben hoch in den Lüften – wie echte Adler.“ Und was hält sie wohl oben? Alle gäben sie die gleiche Antwort: Gott. Das klingt natürlich sehr amerikanisch: Durch Gottes Kraft zum Millionär. Wenn schon die Umweltgesetze den ökonomischen Interessen so untergeordnet sind, dass der amerikanische Nationalvogel, der Weißkopfseeadler, gefährdet ist, dann müssen bekehrte Geschäftsleute eben Adler spielen und die Lüfte mitsamt ihren Laptops bevölkern.

Aber die schwebenden Manager sind nur der Köder. Denn die Broschüre zum Erfolg stellt bereits vorlaut die Frage des frustrierten, erfolglosen und lebensmüden Lesers, an den sie sich offensichtlich und eigentlich wendet: „Und was ist mit mir?“ Und da verströmt sie ihre ersten Gemeinheiten, wenn sie dreist behauptet, dass Gott nicht nur Millionäre und Leistungssportler liebt, sondern auch Hilflose, Arbeitslose, Drogensüchtige und – „Hausfrauen, die sich im Netz des Ehebruchs verfangen haben“.

Da ist sie, die lüsterne Spinne im biederen Hausfrauenkittel. Sie gehört nicht wie Bild-der-Frau-Chefredakteurin Zangemeister zum Kapitel „Neun erfolgreiche Menschen“, in dem Stars aus Sport, Schlager und Industrie ihre wundersame Erleuchtung schildern. Noch nicht, aber vielleicht könnte sie dabei sein. So wie Susan Atkins, die einst der Charles-Manson-Bande angehört hatte und deren Todesstrafe nach eingehender Bibellektüre in „lebenslänglich“ umgewandelt wurde. Die anderen Todeskandidaten müssen derweil auf ihre Wiederauferstehung oder -erweckung vertrauen, im christlichen Amerika. Und ich darauf, dass mich zukünftig niemand mit christlichen Werbeblättchen oder Hausbesuchen quält. Denn leider habe ich soeben im Inforadio vernommen, dass die ganze Werbeaktion von der amerikanischen De-Moss-Stiftung vorgenommen wurde, um an möglichst viel Adressen zu gelangen. Ein Schuh von Deichmann kommt mir jedenfalls nicht mehr ins Haus.

WOLFGANG MÜLLER

Jamie Buckingham: „Kraft zum Leben“. 148 Seiten, die letzten 10 davon unbedruckt, umsonst