Jagd auf „Schmarotzer“

„Kinder sind keine Freifahrscheine. Es wird auch ganz bewusst auf dieser Schiene gefahren.“

von BARBARA BOLLWAHN
DE PAEZ CASANOVA

Die Botschaft war unmissverständlich. Am 6. Februar diesen Jahres erhielt Frank Balzer, CDU-Sozialstadtrat des Berliner Bezirks Reinickendorf, einen Brief mit einer scharfen Patrone und einem Messer. Einen Tag zuvor hatten Unbekannte versucht, eine Eingangstür des Sozialamtes anzuzünden. In dem Bekennerschreiben bezeichnet eine „militante Gruppe“ den Stadtrat als „die Personifizierung des alltäglichen Sozialamtsterrors“. Zur Begründung der Aktion heißt es: „Dem Klassenkampf von oben muss ein Klassenkampf von unten militant und bewaffnet entgegen treten.“ Die Bundesanwaltschaft ermittelt und hüllt sich in Schweigen.

Die Personifizierung des Bösen aus dem bürgerlich-konservativen Nordwesten Berlins, wo die CDU die Mehrheit hat, sieht bieder aus. Der Stadtrat für Bürgerdienste, Soziales und Sport, wie es exakt heißt, trägt einen Schnauzbart, das Haar in der Mitte gescheitelt, ein orangefarbenes Hemd mit weißem Kragen, eine blau-orange gemusterte Krawatte und eine graue Hose. Die kräftige Statur – eine Symbiose aus Kraftsport und gutem Essen – lässt den in Trennung lebenden Mann älter als 37 Jahre erscheinen. Sein Büro im Rathaus hat der gebürtige Berliner und bekennende Hertha-Fan dekoriert mit Fußballwimpeln, einer Karte von Reinickendorf, einem Zebrabild, einem Hund vor einem Grammofon und einer Stoffente auf der Telefonanlage. An einem Heizungsknopf hängen Karnevalsmedaillen. Es ist Balzer wichtig zu betonen, dass er kein Faschingsfan ist.

In seiner Politik ist Balzer gradliniger als in seiner Büroausstattung. Mit 20 Jahren trat er der CDU bei, und seinen Stil kann man durchaus als konsequent bezeichnen. Seit seiner Amtsübernahme Ende 1998, da war er CDU-Fraktionschef, hat er sich den Kampf gegen Sozialmissbrauch auf die Fahnen geschrieben. Kritiker werfen ihm vor, Hilfeempfänger als potenzielle Schmarotzer zu sehen und im Sozialamt ein Klima der Abschreckung zu schaffen. Genannt werden wollen die Kritiker nicht. Sie befürchten eine weitere Verschlechterung für ihre Klienten. Die haben es jetzt schon schwer genug: Anträge auf Mietschuldenübernahme werden im großen Stil abgelehnt, Ermessensspielräume oftmals zugunsten der Verwaltung statt der Antragsteller ausgelegt.

Mit fünf Worten umreißt Balzer seine Linie: „Mut, etwas sehr stringent durchzuziehen.“ In Boulevardzeitungen ließ er sich breitbeinig und mit vor der Brust verschränkten Armen in Rambo-Pose ablichten. Das würde er heute nicht mehr machen, sagt er. Doch an seiner Überzeugung hält er fest: „Zehn bis fünfzehn Prozent der Hilfeempfänger haben den Ansatz, mehr rauszuholen.“ Die Angabe der Berliner Senatssozialverwaltung von einer Missbrauchsquote von nicht einmal zwei Prozent nennt er „Quatsch“. „Für viele ist Missbrauch ein Sport.“ Das Sozialsystem sei „so gut, dass man an einigen Stellen nicht mehr unterscheiden kann, wer bedürftig ist und wer das System ausnutzt“.

Also hat Balzer Arbeitsrichtlinien erarbeitet. In einen Papier zur Übernahme von Mietrückständen heißt es, dass „die Entscheidungspraxis deutlich verändert werden soll“. Damit wird aus einer Soll- eine Kannbestimmung. Dabei heißt es in Paragraph 15a des Bundessozialhilfegesetzes: „Hilfe zum Lebensunterhalt … soll gewährt werden, wenn sie gerechtfertigt und notwendig ist und ohne sie Wohnungslosigkeit einzutreten droht.“ Diese Regelung setzt nicht voraus, dass die Mietrückstände ohne Verschulden des Hilfesuchenden entstanden sind, stellte das Berliner Verwaltungsgericht zugunsten eines Antragstellers fest. Auch wenn Balzer betont, dass bei Übernahmen private Probleme berücksichtigt würden, sieht die Praxis oft anders aus.

Joachim Kneschk zum Beispiel, alleinerziehender Vater. Der 39-Jährige wohnt seit knapp zwei Wochen mit seinen Kindern, vier und acht Jahre, in einer Bezirkseinrichtung für obdachlose Familien, die aus mehreren zweistöckigen Baracken besteht und über die Stadtrat Balzer sagt: „Einige fühlen sich dort so geborgen, dass sie gar nicht mehr rauswollen.“ Sieht man das neue Zuhause von Kneschk neben einem Container-Service und einem „Pflegeparadies für Autos“ kann man das nur Zynismus nennen. Er muss mit seinen Kindern auf 39 Quadratmetern leben. Zu den Gemeinschaftsduschen muss er um das Haus herumlaufen, zum rückwärtigen Eingang. Dort hat die Kälte auf der Toilette dunkelbraune Hinterlassenschaften konserviert. Der Rest ist ähnlich eklig.

Kneschk hat vorher mit den Kindern und seiner Frau in einer Vierzimmerwohnung gelebt. Als die Frau auszog, sein Arbeitgeber, ein Malereibetrieb, monatelang keinen Lohn zahlte, Kneschk kündigte und beim Arbeitsamt gesperrt wurde, kam er mit der Miete in Verzug. Die von der Sozialarbeiterin gefundene Lösung – das Bezirksamt übernimmt die Hälfte der Mietschulden, den Rest stottert Kneschk in Raten ab und er zieht in eine kleinere Wohnung – wurde von Balzers Verwaltung abgelehnt, obwohl die Wohnungsbaugesellschaft einverstanden war. Als Begründung wurden Leistungen angeführt, die Kneschk vor sage und schreibe 13 Jahren zur Vermeidung einer Räumung bekommen hat.

Mitarbeiter von Balzers Verwaltung schreiben in einem internen Papier, dass sich dessen Richtlinie insofern als „praktikabel“ erweise, „als fast kaum noch Hilfen gewährt werden“. Sie werfen dem Stadtrat vor, Hilfesuchenden „von vornherein pauschal bewusste Spekulation auf öffentliche Hilfen“ anzulasten und „subjektive Faktoren“ wie Überschuldung, Resignation, Überforderung oder Alkohol nicht zu berücksichtigen. Die Folgen: Die beiden bezirklichen Einrichtungen für obdachlose alleinstehende Männer und für Familien, die zu Balzers Amtsantritt fast hätten geschlossen werden können, sind voll bis unters Dach.

Balzer kontert: „Man kann nicht sagen, ich bin ein guter Sozialstadtrat, wenn ich allen alles gebe.“

Als eine weitere Möglichkeit, Geld zu sparen, lässt der Stadtrat die Anträge auf einmalige Beihilfen minutiös unter die Lupe nehmen. Dazu hat er den Prüfdienst von drei auf acht Mann aufgestockt. „Bei 40 Prozent handelt es sich um Missbrauch“, glaubt er zu wissen. „Schauen Sie mal in die Zweite Hand (Berliner Anzeigenblatt; Anm.d.Red.), wie viele Kühlschränke und Waschmaschinen dort angeboten werden!“ Natürlich kann er deren Herkunft nicht beweisen, doch er verweist „auf die vielen geborgten Waschmaschinen und Kühlschränke“, die seine Prüfer finden würden. Mit Genugtuung präsentiert der Verwaltungswirt seine Rechnung: „Ein Prüfer kostet 33.400 Euro pro Jahr und bringt 109.400 Euro Einsparungen pro Jahr.“ Dass die Kontrolleure bei der Überprüfung von Lebensgemeinschaften nicht davor zurückschrecken, sich auf Befragungen von Nachbarn zu verlassen, ficht ihn nicht besonders an. „Das ist ein Bereich, wo ich nicht ausschließen kann, das im Einzelfall auch Fehler geschehen.“ Doch das sei kein Grund, sein System in Frage zu stellen.

Der Posten des Sozialstadtrats ist für Balzer „kein Traumberuf“, gibt er unumwunden zu. Seine Fraktion hatte damals das „Zugriffsrecht“ auf das Ressort. Doch er beeilt sich zu betonen, dass das Ressort „außerordentlich spannend“ sei und ihm „das verantwortungsvolle Gestalten“ gefalle. Den Vorwurf der sozialen Härte, den ihm Grüne und SPD im Bezirk seit Jahren machen, weist er entschieden zurück. „Man kann mir nicht zum Vorwurf machen, etwas anzuwenden, was im Gesetz steht.“ Der leidenschaftliche Fußballspieler – kein Stürmer, sondern defensives Mittelfeld – gibt den Ball zurück. „Man kann nicht sagen, ich bin ein guter Sozialstadtrat, wenn ich allen alles gebe.“ Stolz verweist er darauf, die Zahl der Sozialhilfeempfänger von 16.500 auf 13.700 in Reinickendorf gesenkt zu haben.

Balzer hält nicht allzu viel von Sozialarbeitern. „Es gibt da erhebliche Unterschiede.“ Deshalb entscheidet die Verwaltung, welche Hilfen gewährt werden. Stellungnahmen der Sozialarbeiter fließen ein, mehr nicht. Sehen diese beispielsweise Suizidgefahr bei einem Klienten, wenn eine Räumung ansteht, spricht Balzer von „Erpressung“. Oder Antragsteller mit Kindern. „Kinder sind nicht zwangsläufig Freifahrscheine. Es wird auch ganz bewusst auf dieser Schiene gefahren.“ Ähnlich hart ist Balzer mit Klienten des sozialpsychiatrischen Dienstes, die einen Sonderstatus bei der Mitwirkungspflicht haben. Dem Psychiatriebeirat sind eine Reihe von Fällen bekannt, bei denen die Sozialhilfe gestrichen wurde: wegen mangelnder Mitwirkung. Ohne die Betreuer zu informieren. Jüngstes Opfer der Sparpolitik sind die Obdachlosen. Im April wird die einzige Tagesstätte im Norden Berlins geschlossen, wo Wohnungslose beraten werden. Der „Arbeitskreis Wohnungsnot“ beklagt einen Anstieg der Obdachlosen im Bezirk von 250 im Jahr 1999 auf über 300 im vergangenen Jahr und geht von einer Dunkelziffer von 600 aus.

„Balzer ist eine der Polit-Figuren, die sich gerne den Nimbus des Machers und Unerschütterlichen anheften. Unsere Aufgabe ist es, diesen Förderern der Massenarmut klar definierte Grenzen zu setzen“, heißt es in dem Drohschreiben vom Februar. Balzer zeigt sich „erstaunt über so viel Aufmerksamkeit“. Er beachte „einige Standardsachen“ vom Staatsschutz und werde seine Arbeit nicht in Frage stellen. „Ich besitze eine gewisse Durchsetzungsfähigkeit.“ Ähnlich reagierte er, als vor zwei Jahren Unbekannte seinen Wagen in Brand setzten. „Das war ärgerlich, aber dafür gibt es ja Versicherungen“, so sein Kommentar. Seitdem gibt er mit einem neuen Wagen Gas.