„Ein Freund der Wahrheit, ein Freund des Iran“

Ein persönlicher Nachruf auf einen guten Freund: Der iranische Schriftsteller und Journalist Faradsch Sarkohi über den verstorbenen taz-Redakteur Thomas Dreger

Einst in einer fernen Zeit, als die Götter, die Feen und die Helden noch auf der Erde lebten, reiste Gilgamesch in das Reich der Finsternis, der Schatten und der Geister, um mit den Göttern zu kämpfen und seinen Freund Enkidu aus dem erbarmungslosen Schlund des Todesdrachens zu befreien. Nachdem Galilei entdeckte, dass die Erde um die Sonne kreist, wurden die Götter, die Feen und die Helden von der Erde vertrieben. Jahrhunderte später, in dieser Welt ohne Legenden, ging Gilgamesch in das Reich des Todes, doch Enkidu konnte ihn nur beweinen. Was hätte er in dieser realen, harten Welt auch tun können?

März 1996. Mein erstes Treffen mit Thomas in der Wohnung eines gemeinsamen Freundes. Ich frage mich, ob sich dieses freundliche und zarte Gesicht, die Gewalt, die man gegen uns anwendet, vorstellen kann. Als ich von den Verhören mit verbundenen Augen in dem mit einem Folterbett und an den Wänden aufgehängten Peitschen geschmückten Zimmer berichte, füllen sich seine großen und mädchenhaften Augen mit Tränen, die er zurückzuhalten versucht. Er atmet unruhig, das Schluchzen in seinem Hals unterdrückend.

Ich bin für zwei Wochen aus Teheran nach Berlin gekommen. Ein Freund schlägt vor, mich bei ihm zu Hause mit einem „deutschen intellektuellen Journalisten“ zu treffen. Islamwissenschaftler sei er auch. Die taz sei eine intellektuelle deutsche Zeitung. Mein Interesse ist nicht allzu groß. Ich beabsichtige, in den Iran zurückzukehren, und der iranische Geheimdienst hat Interviews mit ausländischen Journalisten untersagt. Mit ausländischen Islamwissenschaftlern habe ich keine positive Erfahrungen. Den meisten sind die zeitgenössische Geschichte und die aktuellen Auseinandersetzungen in den islamischen Ländern fremd. Doch dann siegen meine Neugier und das Bedürfnis, die Probleme in Iran der Weltöffentlichkeit bekannt zu machen. Bereits in der ersten halben Stunde erkenne ich, dass Thomas den Iran, den Islam und die islamischen Länder genau kennt. Ich verstehe, dass er sich mit unseren gegenwärtigen Problemen auseinander setzt. Dass er unsere Bestrebungen für mehr Pressefreiheit unterstützen will. Er lässt in mir die Erinnerungen an die Generation der 68er lebendig werden. Der Traum, die Welt zu verändern! Ich denke an die Journalisten und Schriftsteller der Internationalen Brigade in Spanien. Wir werden Freunde.

Er fragt mich: „Warum kehrst du zurück? Bleib hier in Deutschland. Es ist verrückt, sich freiwillig in eine Todesfalle zu begeben.“ Doch ich wusste, dass auch er die gleiche Verrücktheit besaß. Wäre er an meiner Stelle, so würde er ebenfalls zurückkehren. „Dort“ sein? „Dort“, wo die Nachrichten entstehen. „Dort“, wo etwas zu verändern ist, dort, wo alles der Veränderung bedarf. Hinter dem Schreibtisch zu sitzen, Kommentare zu schreiben und redaktionelle Arbeiten zu erledigen, befriedigte Thomas nicht.

Im November 1996 werde ich auf dem Teheraner Flughafen entführt. Der iranische Präsident gibt bekannt, ich sei in Deutschland. Der Geheimdienst will mich töten. In den ersten Wochen widmet die deutsche Presse der Angelegenheit kein allzu großes Interesse. Einige Zeilen über die Verhaftung eines iranischen Schriftstellers und Journalisten in dieser und jener Zeitung. Sonst nichts. Die Inhaftierung und die Tötung iranischer Schriftsteller und Journalisten ist nichts Neues. Die Welt hat sich an die Unterdrückung der Freiheit im Iran gewöhnt.

Auch Thomas kennt diesen beständigen Schmerz. Daran gewöhnt hat er sich nicht. Immer wieder ruft er meinen Fall in Erinnerung. Jeden Tag schreibt er darüber. Unablässig. Thomas legt den Grundstein der Kampagne, mein Leben zu retten. Mindestens einmal in der Woche besucht er meine Familie. Er wird zu einem Onkel für meine Kinder. Ein deutscher Onkel.

Einige Zeit später veröffentlicht Thomas meinen Brief in der taz. Der Brief zieht eine Welle des Mitgefühls nach sich. Die öffentliche Meinung lässt auch die Presse wach werden. Enkidu wird aus dem erbarmungslosen Schlund des Todesdrachens befreit. Hätte es Thomas nicht gegeben, was wäre mit dem Brief und mit mir geschehen?

Ich komme frei, erhalte jedoch keine Ausreisegenehmigung. Sie planen weiterhin, mich zu töten, nachdem sich die Wogen erst einmal geglättet haben. Despotien lassen die Zeugen ihrer Verbrechen nicht am Leben. In Teheran habe ich keine eigene Wohnung mehr. Jeden Tag übernachte ich an einem anderen Ort. Egal wo ich bin, ruft Thomas mich an. „Bist du am Leben? Gut, mach dir keine Sorgen. Wir bringen sie dazu, dir einen Pass zu geben.“

Mai 1998. Ein Wunder. Ich wuchs mit den Geschichten aus Tausendundeiner Nacht auf. Tausendundeine Nacht ist eine Welt, in der alles möglich ist. Meere versiegen, Berge setzen sich in Bewegung, Sterne kommen auf die Erde herab, der Baum der Wünsche beginnt zu blühen. In meiner ersten Nacht im Gefängnis, im Alter von 16 Jahren, wünschte ich mir einen fliegenden Teppich herbei, damit er mich aus dem Dunkel der Zelle auf die andere Seite ins Licht bringe. Die Gefängniswände versperrten dem Zauber aus Tausendundeiner Nacht den Weg. Doch im Mai 1998 bewirkte der Zauber ein Wunder. Der Flug der Lufthansa brachte mich vom Tod nach Frankfurt. Auch Thomas wartete im Empfangssaal. Was hätte Gilgamesch getan, hätte er seinen Freund aus den Schlünden der Todesdrachen befreit? Mythologische Gestalten weinen nicht, aber Thomas umarmte mich und weinte. Eine Stunde später im Literaturhaus in Frankfurt. Ein Exklusivinterview mit Thomas. Mein erstes Interview in der Freiheit. Eine andere Zeitschrift war bereit, für ein erstes Exklusivinterview viel Geld zu bezahlen. Sie erhielt eine Absage. Das stand Thomas zu. Als er mich fragte, was ich empfinde, sagte ich: „Es ist, als ob ich aus der Welt Kafkas in ein farbenfrohes Gemälde van Goghs geschleudert worden sei.“ Lachend fügte ich hinzu: „Aber Thomas, du ähnelst gar nicht den Sonnenblumen.“ Doch. Er ähnelte ihnen. Er wollte immer ins Licht blicken. Ist das Licht nicht das älteste Symbol für die Wahrheit?

Später ging er einmal in den Iran. Um über den Sturm zu berichten, der im Anmarsch ist. Es war ein Ereignis von „dort“. Thomas wollte „dort“ sein. Danach gaben sie im kein Visum mehr. Die iranische Botschaft mag weder Sonnenblumen noch die Wahrheit. Thomas beschäftigte sich weiterhin mit den Problemen im Iran. Wann immer ein Schriftsteller oder Journalist in Iran verhaftet wurde, rief ich ihn an. Er würde etwas unternehmen. Ich war mir sicher: Thomas ist ein Freund der Wahrheit, ein Freund des Iran, ein Freund des Lichts, er blickt ins Licht.

Wir haben uns im März kennen gelernt. Im Frühling. Heute pflanze ich in Erinnerung an Thomas eine Sonnenblume, damit diese sich dem Licht zuwendet.

Aus dem Persischen von Sabine Kalinock

Der iranische Regimekritiker Faradsch Sarkohi wurde am 3. November 1996 vom Geheimdienst verschleppt, als er von Teheran aus nach Deutschland fliegen wollte. 47 Tage fehlte von ihm jede Spur. Dann ließen die Agenten ihn wieder auftauchen. Im September 1997 wurde er zu einem Jahr Haft verurteilt. Nach einer internationalen Kampagne konnte er am 6. Mai 1998 ausreisen. Seither lebt der 56-Jährige in Frankfurt am Main.