Gnadenlos dissoziiert

„Der Mensch baut immer Scheiße“: Jürgen Kruse inszeniert Desire. Gier unter Ulmen am Thalia  ■ Von Annette Stiekele

Über die deutsche Übersetzung des Titels regt sich Jürgen Kruse erst mal auf: „Desire bedeutet doch nicht Gier, sondern Sehnsucht.“ Auf seinen Autor Eugene O'Neill lässt Kruse allerdings nichts kommen, „der hatte Action in der Birne“. Nach seiner umstrittenen Hamlet-Inszenierung, die er mit viel Rock 'n' Roll, einem nölenden Peter Jordan und einem voluminösen Soundtrack bestückt hat, greift der Regisseur für seine zweite Aufführung am Thalia Theater zu einem modernen amerikanischen Klassiker: zu Desire. Gier unter Ulmen; das Original stammt von Eugene O'Neill.

Die Theaterphilosophie des gebürtigen Hamburgers Kruse, Jahrgang 1959, ist schnell auf den Punkt gebracht. Seit der Orestie ist für ihn alles so geblieben, wie es ist: „Der Mensch baut immer nur Scheiße.“ Für Kruse hingegen hat sich einiges geändert. Fünf wilde Jahre hat der Stein-Schüler bis 2000 als Hausregisseur bei Leander Haussmann in Bochum verbracht. Und die Regie-Troika Haussmann, Gottscheff, Kruse hat dem Haus trotz stürmischer Kritik zu einer prägnanten Handschrift verholfen. Mit einem kompromisslosen Subjektivismus erreicht Kruse ein eher jugendliches Theaterpublikum. Gnadenlos dissoziiert er Texte, simuliert Ereignisse und Gedanken. Dabei gibt er durchaus den Blick auf wahrhaftige Gedanken frei.

Der gebürtige Schotte Eugene O'Neill (1888–1953) stieg Anfang vergangenen Jahrhunderts zu Amerikas bedeutendstem Dramatiker auf. Geprägt von der psychologischen Schule der Europäer Ibsen und Strindberg, revolutionierte O'Neill das amerikanische Theater: Er verband eine analytische Erzählweise mit der rauen Wirklichkeit des amerikanischen Puritanismus.

In dem 1924 uraufgeführten Drama Desire. Under the Elms erzählt O'Neill die Geschichte des tyrannischen Familienoberhauptes Ephraim Cabot. Der Farmer hatte zwei Frauen, an deren Seite er einsam blieb. Von der ersten hat er zwei Jungs, die ihn für seine Härte hassen. Er wiederum erträgt ihre Weichheit – und ihre Jugend – nicht. Mit seiner zweiten Frau hat er noch einen jüngeren Sohn. Sie leben auf einer öden Farm in Neu England, die Cabot streng führt.

Als die beiden älteren Brüder nach Kalifornien abwandern, hofft Eben, der Jüngste, auf sein Farmererbe, doch die zweite Ehefrau seines Vaters macht ihm einen Strich durch die Rechnung: Des Farmers bisheriges Leben sei ein „Meer von Sorgen“, behauptet sie. Mit einer Mischung aus Mutterliebe und Begierde umgarnt sie Eben und zerrt ihn ins Bett. Das entstandene Kind will sie nutzen, um ebenfalls an das Erbe zu kommen. Als sie ihre wahren Gefühle für Eben entdeckt, kommt es zu einer Tragödie.

Raffiniert schichtet O'Neill hier Realismus und Religion ineinander. In zahlreichen Anspielungen an das Alte Testament schildert er den amerikanischen Gründungsmythos. In europäischer Tradition wiederum beschwört er die Geister Verstorbener.

Mit Michael Altmann als Vater, Andreas Pietschmann als Eben und Judith Rosmair als Abbie ist die Produktion hochkarätig besetzt, wobei Pietschmann und Rosmair Weggefährten aus Bochumer Zeiten sind. Über die Feinheiten seiner Regiearbeit schweigt sich Jürgen Kruse, der mit 18 Jahren zum ersten Mal Regie führte, jedoch aus.

Gegen den Vorwurf, ein „Stü-ckezertrümmerer“ zu sein, wehrt er sich allerdings. Nein, er ist einer, der an die Kraft des Wortes glaubt und an die Echtheit des Gefühls. Wie von sich selbst, fordert er auch von den Schauspielern, dass sie an ihre emotionalen Grenzen gehen. Doch ebenso stark glaubt er an die Kraft des Rock 'n' Roll und des Kinos. Diesmal wird er wohl im Revier amerikanischer Country- und Westernmythen wildern. Getreu seinem Credo: „Es gibt keine höhere Philosophie als die der Musik“ liefert er eine „Klangspur“ aus seiner Plattensammlung der 60er und 70er Jahre mit.

Ein weiteres zentrales Element seiner Regie sind die Lichteffekte. Schon im Hamlet lag die Bühne häufig im Dunkel, und nur die Gesichter der Darsteller wurden von unten angestrahlt. „Ich will das mit dem Theater nicht lebenslänglich machen“, behauptet Kruse, fügt dann jedoch ein wenig selbstironisch hinzu: „vielleicht mache ich noch mal Charley's Tante.“

Premiere: Sonnabend, 23. März, 20 Uhr, Thalia