Felsen, Glas und Samt

■ Louis Lortie: Neue Funken für Tschaikowsky

Selten genug gelingt es, aus allzu Bekanntem neue Funken zu schlagen. Und dem Werk des russischen Komponisten Peter Tschaikowsky haftet zudem das Image des Sentimentalikers an, nicht erst seit dem Verdikt Theodor W. Adornos, der in seiner berühmten Aufteilung der „Hörertypen“ die Sentimentalen an der Musik von Tschaikowsky exemplifiziert.

Der große russische Dirigent Fedor Fedossejev sagte: „Meiner Meinung nach ist Peter Tschaikowsky überhaupt kein sentimentaler Komponist, er wird eben immer wieder sentimental gespielt, weil die weichen endlosen Melodien dazu verführen.“ Nicht einfacher wird das Problem, wenn gerade diese Musik in ihrer direkt ansprechenden Wucht vielfach in die Werbung einbezogen und zum Vorbild für den Hollywood'schen Musikstil wurde.

Die Rede ist vom ersten Klavierkonzert in b-Moll, interpretiert beim letzten Philharmonischen Konzert unter der Leitung von Stephan Sanderling. Der Philharmonischen Gesellschaft gelingen ja immer wieder kleine und große Sensationen, dieses war eine große. Der kanadische, jetzt in Berlin lebende Pianist Louis Lortie entzündete ein Feuerwerk von Kraft und Klangfarben und ließ keine Sekunde den üblichen Eindruck des einst für unspielbar gehaltenen „Reißers“ zu.

Die präzisen Konturen seines tigerhaften Zugriffs waren so stark, dass man meinte, nicht Töne, sondern nackte Felsen zu sehen und hören, die Klangnuancen waren so vielseitig, dass man meinte, einen Samtstoff zu hören und zu fühlen, die Transparenz war so perfekt, dass man meinte, Glas zu hören und zerspringen zu sehen. Zudem war Lorties auch rhythmisch ungemein geladene Wiedergabe geprägt – und dies das Ergebnis des Zusammenspiels mit dem Philharmonischen Staatsorchester – durch einen extrem dialogischen Charakter: Das Konzert sei, so der Komponist, „der Kampf zweier ebenbürtiger Kräfte, in dem der kleine, unscheinbare, doch geistesstarke Gegner siegt, wenn der Pianist begabt ist“. (Unvergesslich ist in der Geschichte der Interpretation, dass der Jahrhundertpianist Wladimir Horowitz diesen „Kampf“ 1928 bei seinem Debut in der New Yorker Carnegie Hall so spielte, dass er um Sekunden früher fertig war als das Orchester unter Thomas Beecham). Ovationen für Lortie.

Ein Abend mit russischer Musik sollte es werden, aber warum ausgerechnet ein dreiviertelstündiges Werke aus Sergej Prokofieffs klassizistischer Epoche? Die große Ballett-Suite „Romeo und Julia“ ist 1935 geschrieben, also zwei Jahre, bevor sich Prokofieff endgültig dem Druck des sowjetischen Realismus beugte und erklärte, dass man für das Volk schreiben müsse. Noch so viele gute dramaturgische Wirkungen können nicht über bombastischen und pathetischen Leeerlauf hinwegtäuschen.

Stephan Sanderling sicherte aber eine umsichtige, spannungsgeladene und in jedem Augenblick tief emotionale Wiedergabe.

Ute Schalz-Laurenze