Zwischen Apparat und Milieu

Franz Walter zieht mit leichter Hand die großen Linien der SPD-Geschichte vom „Proletariat zur Neuen Mitte“. Eine Deutung der aktuellen sozialdemokratischen Sinnkrise bleibt er allerdings schuldig

Ihren ersten Triumph erlebte die neue Mitte mit Willy Brandts Kanzlerschaft

von WARNFRIED DETTLING

Franz Walter hat ein anregendes Buch geschrieben. Der Autor gehört zur Göttinger Schule der Politikwissenschaft, die immer wieder gern aus der Binnenwelt der akademischen Gelehrsamkeit ausbricht und sich in politische Debatten einmischt. Das ist meist ebenso gut für die Debatten wie für die Wissenschaft. Voraussetzung ist eine Sprache, die in beiden Welten verstanden wird. Auch Walters fast 300 Seiten starke Geschichte der SPD ist flott geschrieben. Wer liest, versteht die Partei besser.

Walter erzählt Geschichte und er wertet, interpretiert und verallgemeinert mit lockerer Hand. Er skizziert nicht nur Personen und Ereignisse, sondern streut immer wieder Kommentare ein, die einem gebildeten und engagierten Menschen so einfallen. Diese deskriptiv-narrativ-interpretierende Methode hat in Verbindung mit dem Milieu-Ansatz ganz ohne Zweifel ihre Stärken. Diese können sich insbesondere in den historischen Kapiteln voll entfalten. Leider sind auch ihre Schwächen nicht zu übersehen, vor allem in den aktuelleren Passagen. Gesellschaftliche Konflikte, Macht, Interessen und Besitzstände sowie handelnde Akteure und politische Ideen werden in ihrer Bedeutung eher relativiert. Doch dafür treten dann Zusammenhänge in den Blick, die sonst meist übersehen werden.

So beschreibt Walter, wie die Arbeiterbewegung nicht aus der Mitte der Proletarier entstand, sondern als Reaktion der Handwerkergesellen und -vereine auf die soziale Krise der beginnenden Industrialisierung. Im Kaiserreich lebten die revolutionären Zukunftsträume der Sozialdemokraten und eine pragmatische Gegenwelt nebeneinander: Die SPD „errichtete ihr separates Milieu, getragen von zahlreichen Kultur-, Sport- und Geselligkeitsvereinen. Der Sozialismus in Deutschland wurde zum Milieu- und Vereinssozialismus, streng abgeschottet von der bürgerlichen Organisations- und Lebensform.“ Nach August Bebels Tod im Jahre 1913 sei dann die „Ära der Organisationen, Apparate und Sekretäre“ angebrochen.

Der Charme des Buches liegt im Panoramablick des Autors begründet, mit dem er scheinbar nebensächliche und unpolitische Dinge beobachtet und sie in Zusammenhänge einordnet; in einer mehrdimensionalen Analyse, die Ambivalenzen stehen lässt – und in seiner Kunst der langen Linien, mit denen er die fernen und die nahen Entwicklungen miteinander verbindet. Walter kritisiert deutlich die „Vergewerkschaftung“ und „Sozialverkassung“ der Arbeiterbewegung, übersieht jedoch nicht, dass es wesentlich den Funktionären zu verdanken ist, dass die Sozialdemokratie nicht als amorphe soziale Bewegung wieder verschwand, sondern all die Zäsuren und Systemwechsel überdauert hat. Immer wieder arbeitet Walter die Gegensätze des Milieus heraus: Einerseits ist es ein Ort der Emanzipation, der mit seinen Liedern und Ritualen Partei und Bewegung große Sicherheit und Stärke gab in einer feindlichen Welt; zum andern ein Ort der Borniertheiten und Beschränkungen, die die Partei daran hinderten (und hindern), die Realitäten zur Kenntnis zu nehmen.

Das Milieu trieb bisweilen wundersame Blüten, so wenn etwa SPD-Zeitungen in den 1920er-Jahren nicht über Fußball (auch nicht über die Spiele der Arbeiter-Fußball-Vereine) berichteten, weil sie keinem falschen Bewusstsein Vorschub leisten wollten; denn schließlich ging es bei Fußball ja um Kampf und Sieg, um Wettbewerb und nicht um Solidarität. Und was die langen Linien betrifft: Die ersten Anfänge der neuen Mitte entdeckt Walter schon bei dem Erscheinen des Angestellten auf der gesellschaftlichen Bühne in den 1920er-Jahren und im veränderten Freizeit- und Medienverhalten kurz danach. Ihren ersten Triumph habe sie schließlich mit Willy Brandts Kanzlerschaft 1969 erlebt: Das waren, so der Autor, die besten Jahre der SPD; zum ersten Male war sie im Gleichklang mit der Gesellschaft und an der Macht; sie konnte tatsächlich das Gefühl haben, mit ihr ziehe die neue Zeit in Richtung Frieden und Fortschritt.

Wäre das Buch hier zu Ende, hätte der Autor sich und den Lesern einiges erspart an Klischees. Denn: Oberflächlich bleibt die Analyse der sozialliberalen Jahre. Fast alle Probleme in der Gesellschaft und Widerstände in der SPD, die der Regierung heute zu schaffen machen, zeigten sich bereits deutlich in der Ära Brandt/Schmidt, von den Ölkrisen über Massenarbeitslosigkeit und Umweltprobleme bis hin zum Ende eines Staates, der aus dem Vollen schöpfen kann. All das wird im Buch zwar irgendwie erwähnt, aber ohne Sinn für die Zäsuren, die sich hier ankündigten und die in Verbindung mit dem Strukturkonservatismus der Partei die alte SPD konzeptionell aus der Mitte herausdrängten just in einem historischen Moment, in dem sie diese nachhaltig hätte gewinnen können.

Die 16 verlorenen Jahre in der Opposition mit all ihren Vorsitzenden und Kandidaten werden brav nacherzählt, ohne jedoch die für die Zukunft der SPD entscheidenden Fragen aufzuwerfen. Der „Tanz der ‚Enkel‘ “ ist das einschlägige Kapitel überschrieben, aber wir erfahren darin nichts Neues. Haben sie wirklich geglaubt, was sie in Juso-Jahren beschlossen und verkündet haben, oder haben sie sich im Rückblick damals für alle Zeiten die Finger verbrannt an jedweden Ideen, die über den Tag hinausreichen, so dass der ideologische Mehrwert von damals die Ideenarmut von heute erklären könnte? Wie kommt und wofür steht, über die Person hinaus, der Wandel Oskar Lafontaines vom Modernisierer der 80er- zum Traditionalisten der 90er-Jahre? Die alten Klischees oder die banalen Wahrheiten, die Walter wieder auftischt („Liebhaber teurer Weine, seidener Krawatten und schöner Frauen“), erklären ja politisch wenig bis nichts. Hier zeigen sich recht deutlich die Grenzen einer soziologisch nicht aufgeklärten Politikwissenschaft. Was aus der Mitte der Gesellschaft und der Wirtschaft (!) heraus zu erklären wäre (wie es auch geschehen ist bei Inglehart, Klages und Yankelovich), erscheint bei Walter als „Ausdruck eines launischen Zeitgeistes“. Dementsprechend kann er sich gar nicht genug lustig machen über die „sozialdemokratischen Sinnstifter“. „Die neuen Leute an der Spitze und im Mittelbau der Partei pilgerten zu protestantischen Kirchentagen, legten dort ihre Stirn sorgenvoll in Falten und bekundeten Verständnis für die Zukunftsängste der hier versammelten ökopazifistisch bewegten jungen Menschen – oder besser noch: zeigten ihre Betroffenheit.“ Walters Geschichte der SPD führt alles in allem nahe an deren Dilemmata heran, ohne diese auf den Begriff zu bringen.

Es könnte ja sein, dass die Entwicklung der Gesellschaft und die Traditionen der SPD auseinander laufen, dass sich ihre großen Themen und Werte (Solidarität und Gerechtigkeit) nicht länger mit ihren klassischen Ideen und Methoden (staatliche Steuerung und Umverteilung) mehr verwirklichen lassen. Organisation und Bildung haben die SPD, ihre Mitglieder und Wähler stark gemacht, ja vorangebracht. Hier müssten die Linien ansetzen, die von der Vergangenheit in die Zukunft führen, und sie müssten Werte und Strukturen entkoppeln: Auf neuen Wegen zu alten Zielen. Die SPD, in Partei und Regierung, hat damit ja auch begonnen, aber die Frage ist, ob die Partei folgt – oder ob das Milieu es verhindert. Es könnte sein, dass die SPD die neue Mitte bei Wahlen ebendeshalb verliert, weil sie diese ideenpolitisch nie wirklich erreicht hat. Warum das so ist, kann man in Walters Buch gut studieren. Sollte die SPD am 22. September die Regierungsgewalt verlieren, nach gerade einmal vier Jahren, wird sie ganz gewiss auch diesen Rückschlag überdauern, aber es wird sich dann doch mehr ereignen als ein Regierungswechsel.

Franz Walter: „Die SPD. Vom Proletariat zur Neuen Mitte“. A. Fest Verlag, Berlin 2002, 304 Seiten, 24,90 €