Lautsprecher aus Liverpool

Nach dem 0:2 beim FC Liverpool und dem Aus in der Champions League fürchtet man beim AS Rom nicht mehr um die eigenen Trommelfelle, sorgt sich aber um die Zukunft des italienischen Fußballs

aus London RAPHAEL HONIGSTEIN

Als Phil Thompson vor einem halben Jahr als Interimstrainer des FC Liverpool antrat, fragten sich die englischen Journalisten besorgt, ob man in Zukunft neben Block und Diktiergerät auch extrastarkes Ohropax in der Pressekonferenz brauchen würde. Der Assistent von Gérard Houllier war als der größte Schreihals der Premiere League bekannt, eine Art menschliches Megafon, das mit Anweisungen seines Herrn ohne Rücksicht auf die Trommelfelle von Feind und Freund den Rasen beschallte. Doch Thompson hat im Amt nicht nur große Kompetenz, sondern überraschenderweise auch einen Sinn für subtilen, leisen Humor und Selbstironie bewiesen. Vor dem Spiel gegen den AS Rom hatte er in Anspielung auf seinen Spitznamen „Pinocchio“ verkündet, man werde dem Gegner am Ende „eine Nasenlänge voraus“ sein. Dass es in Wahrheit nach dem nie ernsthaft gefährdeten 2:0-Sieg seiner Mannschaft und dem Einzug ins Viertelfinale sogar zwei bis drei Nasenlängen waren, hatte allerdings wohl kaum etwas mit seinem ausgeprägten Riechorgan, sondern vielmehr mit der von allen Beteiligten als „überragend“ eingestuften Leistung des Heimteams zu tun.

Der von den Italienern im Vorfeld als Maurertruppe verunglimpfte FC Liverpool hatte sich rechtzeitig zum entscheidenden Spiel der Gruppe auf die eigenen Wurzeln besonnen und die Effektivität von kompromisslosem Pressing wiederentdeckt. Jedes Tackling saß, kaum ein Ball wurde verloren, man attackierte das römische Tor mit einer nahezu perfekten Mischung aus Intelligenz und Fantasie. Die sonst so sichere Dreier-Abwehrkette des italienischen Meisters wurde mit blitzschnellem Kombinationsfußball immer wieder lustvoll auseinander gesprengt. Dass die Tore von Jari Litmanen (Elfmeter, 7. Minute) und Emile Heskey (Kopfball, 67.) nach Standardsituationen fielen, war diesmal anders als in den zuvor sehr defensiv geführten Champions-League-Partien von Liverpool nicht Teil des Programms, sondern nur ein kleiner Schönheitsfehler. Im Gegensatz zu den energischen Engländern trat Roma wie eine elegante, aber etwas in die Jahre gekommene Gesellschaftsdame auf, die beim großen Ball plötzlich merkt, dass andere viel jünger und hübscher sind.

Ähnlich geschockt wie seine Elf präsentierte sich nach Schlusspfiff Fabio Capello bei der Pressekonferenz. Der Trainer des AS Rom schien vor allem bemüht, sein Kinn im blauen Hemdkragen zu vergraben, aber es gelang einfach nicht. Missmutig äußerte er den Verdacht, womöglich beim falschen Spiel gewesen zu sein: „Liverpool war heute Abend eine sehr gute Mannschaft. Ich bin überrascht. So habe ich dieses Team noch nie spielen sehen.“ Die Seinen hätten dagegen auf ganzer Linie versagt, gab der Coach noch zu Protokoll. Dann schwieg er wieder betroffen. Selbst den sonst so kommunikativen italienischen Journalisten schien nichts mehr einzufallen. Nur ein englischer Kollege wollte wissen, warum wieder kein italienischer Klub unter den letzten acht zu finden sei. „Das hat nichts mit Taktik oder Technik zu tun, sondern mit anderen Dingen“, dozierte er Capello, „wir alle müssen mehr tun.“ In welcher Hinsicht genau? „In jeder Hinsicht.“ Aha.

Phil Thompsons Analyse fiel weniger nebulös aus. „Wir haben eines der großartigsten Spiele in der Geschichte des Vereins gesehen“, erklärte er mit echter Ergriffenheit, „es war ein emotionaler und sehr spezieller Abend, besonders für Gérard Houllier“. Der Franzose saß zum ersten Mal seit seinem Herzinfarkt vor knapp sechs Monaten wieder auf der Liverpooler Bank und wurde von den Fans frenetisch gefeiert. „Seine Rückkehr gab uns allen enormen Auftrieb“, erklärte Thompson, „und ich habe mich am meisten gefreut.“ Weil der noch etwas schwächliche Houlier sich auf die strategischen Überlegungen konzentrierte, konnte seine rechte Hand wieder die angestammte Rolle als Lautsprecher an der Seitenlinie übernehmen. Der unmittelbar daneben postierte Capello war der Leidtragende. Nach 70 Minuten schien er von Thompsons Dauerbrüllerei so entnervt, dass er zurück auf die Bank flüchtete und die erfolglosen Bemühungen seiner Spieler bis zum Ende sitzend über sich ergehen ließ. „Man fürchtet uns wieder in Europa“, jubelte Thompson. Wenn sein Team so weiterspielt, wird sein Gegenüber wohl in der Tat nicht der letzte Gästetrainer gewesen sein, der außer einem kräftigen Ohrensausen nichts aus Anfield mit nach Hause nimmt.