Schön wie Wundbrand

Ein Pfeil im Rücken oder die Grippe: Geburtstagsfeiern im Altdeutschen Ballhaus verlangen ihre eigene Strategie. Besonders, wenn Los Desastres sich wieder mal alle in die gleiche Frau verliebt haben und statt der Nazis die Deutsche Welle kommt

von JOCHEN SCHMIDT

Die Frage war, wie viele Leute wir für die Security brauchten. Dan wollte das selbst machen, ich war für drei Bodybuilder. Bloß keine ungeladenen Geburtstagsgäste, schließlich war Führers Geburtstag. Ich rechnete damit, dass selbst die Linksradikalen an diesem Abend zum Spaß mal wo anders mitmischen würden, wie oft hatte man schon Geburtstag.

Es deutete dann auch wirklich alles auf ein Desaster hin. Die Mädchenband, wegen der alle kommen würden, hatte sich am Fuß verletzt. Der Sicherheitsverantwortliche Stein meinte zwei Tage vorher, er wolle „mit dem ganzen nichts mehr zu tun haben“. Die Besitzer des Altdeutschen Ballhauses, Mutter und Tochter Juckel, sahen in uns Abgesandte des Bösen, obwohl wir sie nach allen Regeln der Kunst umschmeichelten. Sie hielten sogar ihre Enkelin vor uns versteckt, damit die nicht plötzlich auf die Idee käme, zu studieren. Sie wollten sie lieber selbst zum Mädchen für alles ausbilden. Einen Tag vor dem Konzert rief dann Dan an: „Ich bin krank.“

„Was?“

„Naja.“

„Kannst du trotzdem singen?“

„Höchstens ein Lied.“

„Na, hoffentlich ist die Skaband wenigstens gut.“

„Die haben sich auch noch nicht wieder gemeldet.“

Statt der Poptarts engagieren wir also die Los Desastres. „No Woman, No Sex, Los Desastres“ war inoffiziell ihr voller Name. Ihre Fanpost ist voll von Briefen: „Hallo, ich war bei euerm letzten Konzert und ich hoffe, es bleibt euer letztes.“ Bei ihrem internen Wettbewerb, wer von ihnen als letzter eine Freundin finden wird, geht es heiß her. Ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Schlagzeuger, Gitarrist und Keyboarder. Nur der Sänger hatte infolge familiärer Probleme schon früh eine gehabt. „Los Desastres“ sind die einzige Band der Welt, die weniger Geschlechtsverkehr hat als ihre Fans, nicht mal die Jackson Five haben das geschafft. Auf ihren Konzerten kommt es immer wieder zu ekstatischen Szenen unter den Zuschauern, alle schwärmen hinterher von der durch die Musik provozierten allgemeinen Willigkeit, nur sie selbst sind wieder einmal Zuschauer geblieben, und das obwohl sie auf der Bühne standen.

Ihre Musik ist so langsam, dass es einen ganz nervös macht. Sie ist dem Geräusch hinkender, müder Pferdehufe abgelauscht. Ein Cowboy, der seit zwei Tagen im Sattel sitzt, einen Pfeil im Rücken, ein Bein amputiert, Wundbrand überall, mit dem Rücken hängt er hinten über dem Pferd, wenn er nicht festgebunden wäre, wäre er schon runtergefallen und von den hinterherlaufenden Hyänen gefressen worden. Den Melodien, die diesem Cowboy durch den Kopf gehen, spüren Los Desastres nach. Einmal hat sie jemand proben hören und war so begeistert, dass er sie angesprochen hat. Er war an ihrer Musik für seinen Film interessiert, ein Dokumentarfilm über Behinderte. Die Poptarts verletzt. Die Stones zu alt, an Los Desastres hatte wieder einmal bis zuletzt keiner gedacht. Dabei könnte keine Band besser geeignet sein, für eine attraktive Mädchenband einzuspringen, wegen der alle kommen würden.

Der Keyboarder kam als erster, er guckte mich ernst an und zeigte auf seinen Hals, er war erkältet und konnte nicht reden. Der Schlagzeuger war dicker geworden und trug eine Brille, ich schüttelte ihm die Hand. Schade, das war doch so ein hübscher Junge gewesen. Später schüttelte ich ihm noch einmal die Hand, und er sah wieder aus wie immer. Ich hatte einen Fremden mit ihm verwechselt. Der Fremde grinste mir den ganzen Abend lang zu. Eine typische Szene für ein Los-Desastres-Konzert. Der Höhepunkt ihrer Bühnenshow war diesmal, dass sich der Sänger die ganze Zeit auf einen Hocker setzte. Bisher waren noch keine Nazis in Sicht, nur ein Fernsehteam von der Deutschen Welle. Sie wollten uns ganz kurz ein paar Fragen stellen. Nach einer halben Stunde hatten sie es geschafft, ihre Handkamera auszupacken. „Kanns jetzt losgehen?“ „Nein, der Ton fehlt noch.“

Nach einer weiteren halben Stunde hatte der Tonmann auf dem Klo abgeschüttelt und anschließend seine Kabel auseinandergeknüppert. Dann kamen die Fragen: „Worin unterscheiden sie sich von Günther Grass?“ Die Frage hatte ich mir so noch nie gestellt. Unterschied ich mich denn überhaupt noch von ihm? „Könnten sie bitte etwas lauter sprechen?“ fragte mich die Redakteurin, obwohl ich noch gar nichts gesagt hatte. „Ich spreche immer so leise.“

„Und könnten sie mich vielleicht ansehen beim Reden?“

„Ich sehe nie jemanden an, ich kann dabei nicht nachdenken.“

„Na gut, dann sehen sie an mir vorbei, aber bitte nicht in die Kamera, ja?“

Plötzlich war ich davon überzeugt, Grippe zu haben. Wenn ich mich jetzt auf die Bühne lege, dachte ich, würden alle denken, mir geht es nicht gut, zu mir hinkommen und versuchen, mich anzusprechen und zu fragen, was mir fehlt. Dabei würde ich mich dort liegend viel besser fühlen. Statt dessen könnten doch jetzt alle zu mir hinkommen, versuchen mich anzusprechen und fragen, was mir fehlt. Niemand weiß, was Juckels, die Besitzer des Altdeutschen Ballhauses für ein Spiel spielen. Ihr Ballhaus ist das ganze Jahr über zum Fasching geschmückt. Ich bin mir sicher, dass sie oben ein Bordell betreiben. Der Klomann steckt mit ihnen unter einer Decke. Er wolle „auch mal nach links und rechts gucken“, meinte er, in Wirklichkeit lockt er junge Frauen in seine Garderobe, die das Klo nicht finden. Man muss ihn im Auge behalten, hier sind sicher schon viele junge Mädchen verschwunden und erst Jahre später als Mädchen für alles wieder aufgewacht. Dabei scheint Juckels Geld gar nicht zu interessieren. Sie bemühen sich nicht, ihre Getränke zu verkaufen. Sie sind überhaupt gegen Besucher. Eine völlig neue Welt tut sich für sie auf, junge Menschen.

Los Desastres haben sich mal wieder alle die gleiche Frau ausgesucht. Sie will aber nur einen von ihnen, kann sich nicht entscheiden und schläft überfordert ein. Stephan Zeisig sucht seine zukünftige Exfreundin, wegen der er seine bisherige Märtyrerin verlassen hat. Robert Naumann sitzt den ganzen Abend schweigend am Ausgang und passt auf die Kasse auf. Ich frage ihn, ob alles okay ist. „Ich schlaf gleich ein“, antwortet er. Sein 15-jähriger Sohn hat für 1500 Mark telefoniert. Was macht man mit so einem Sohn? Ausschimpfen? Rausschmeißen? Arbeiten schicken? Enterben wäre sinnlos, irgendeiner muss ja später die Schulden übernehmen. Jemand, dem ich meine Schwester und meinen Bruder vorgestellt habe, sagt: „Deine Schwester und dein Bruder sind doch total nett. Gar nicht so, wie du immer erzählst.“

Juckels ist alles zu laut. Abwechselnd kommen sie zu mir und verlangen, dass wir leiser drehen und Gäste, die verlangen, dass wir lauter drehen. Dabei hat es doch seinen Reiz, sich beim Tanzen singen zu hören: „Return to sender … no such number“. Höhepunkt der Disko ist ein Lied, in dem es heißt: „I don’t love you anymore“. Alle singen begeistert mit, ich finde das zynisch, mit so etwas Traurigem Geld zu machen. Plötzlich taucht ein alter Bekannter auf, mit einem Blitzen in den Augen, als hätte er seinen Glauben an das Gute wiedergefunden. Ich hatte gar nicht gewusst, dass er hier ist. „Es hat geklappt“, sagt er. „Was?“ „Na, mit der Russin, wir sitzen die ganze Zeit unten in der Bar.“ Ich muss spontan meinen Kopf auf eine Stuhllehne legen. Es hat also geklappt. Wie schön, wenn ich schon streben muss, springen wenigstens andere in die Bresche und finden ihr großes Glück.

Die letzten zwei Stunden stellt sich Frau Juckel neben die Anlage, um DJ Andreas Gläser mit ihrer Präsenz einzuschüchtern. Aber der ist betrunken. „Stehen sie hier, damit niemand durchkommt?“, frage ich sie. „Nee wieso?“

„Na, weil niemand durchkommt.“ Wenn sie jetzt nicht weggeht, bin ich geliefert. Bei dem Versuch, sie wegzudrücken, würde ich mein Gesicht verlieren. Aber zum Glück macht sie einen Spalt frei und lässt mich zwischen ihren Beinen durchkrauchen. Gegen Ende des Abends sucht Stephan immer noch seine neue Exfreundin in spe, Robert sucht 1.500 Mark, Volker sucht einen Grund, sich nicht umzubringen, Dan liegt mit Grippe im Bett, Andreas sucht die Playtaste, damit die Musik weitergehen kann und Frau Juckel sucht ihre Fetenhits-CD. Stein, der Einlasser, schlägt vor, jemanden zu engagieren, um Juckels aus dem Weg zu räumen. „Geld ist da“ meint er. Anders wäre dieser Saal nicht länger zu betreiben. Morgens fällt mir auf, dass gar keine Nazis gekommen sind. Das einzige, was mich an diesem Abend an Hitler erinnerte, war mein gespanntes Verhältnis zu Frauen.

Heute Abend findet im Mudd Club, Große Hamburger Str. 17, um 22.30 Uhr die Brillenschlangenparty mit Jochen Schmidt statt