Maos Arbeiter protestieren

In Chinas nordöstlichem Industriegürtel demonstrieren seit Monatsanfang tausende entlassene Arbeiter. Ein Gewerkschafter spricht von den größten organisierten Demonstrationen seit 1989

aus Peking JUTTA LIETSCH

Sie waren die Helden der Revolution: die Arbeiter auf den Ölfeldern Daqings und in den Stahlwerken des Nordostens. Auf den Mauern der Fabriken ganz Chinas prangte jahrzehntelang die Parole: „In der Industrie lernt von Daqing“. Generationen von Schulkindern staunten über die Kraft und den Mut des Modellarbeiters Wang Jixin, der als „Mann aus Eisen“ gepriesen wurde.

Das ist vorbei. Aus dem Stolz der Nation wurde eine Bürde. Immer mehr Fabriken im Industriegürtel zwischen der an Sibirien reichenden Nordprovinz Heilongjiang und dem an Nordkorea grenzenden Liaoning stehen still. Millionen Menschen sitzen auf der Straße. Ihre Proteste werden immer lauter. In der zweieinhalb-Millionen-Stadt Daqing, tausend Kilometer von Peking entfernt, demonstrieren seit Anfang März täglich tausende Arbeiter. Sie belagern das Hauptquartier der Erdölbehörde und fordern neue Jobs oder anständige Abfindungen.

In Daqing verloren seit Ende der 90er-Jahre über 80.000 Ölarbeiter ihren Job – Folge der Wirtschaftsreformen, mit denen die aus den 60er-Jahren stammenden staatlichen Industrie-Ungetüme international konkurrenzfähig gemacht werden sollten. Die 1999 gegründete Aktiengesellschaft PetroChina, der ein Teil der Daqing-Ölfelder gehört, übernahm nur einen Teil der Belegschaft. Viele Entlassene erhielten als Entschädigung kein monatliches Arbeitslosengeld, sondern eine einmalige Summe von rund 500 Euro pro Jahr Beschäftigung. Die Erdölbehörde versprach ihnen, die Kosten für Heizung und andere Sozialabgaben zu übernehmen. Doch nun will die Behörde davon nichts mehr wissen. Sie strich nicht nur Heizgeld und andere Zuschüsse, sondern forderte von den Arbeitslosen auch noch Sozialabgaben. Vertreter der von der Kommunistischen Partei kontrollierten Gewerkschaft erklärten, sie hätten „damit nichts zu tun“, und wollten die Ereignisse auch nicht kommentieren. Niemand fühlt sich zuständig.

Ebenso grimmig ist die Situation in der Provinz Liaoning einige hundert Kilometer weiter südlich. In der Stadt Liaoyang, wo inzwischen viele Beschäftigte alter Staatsbetriebe den Job verloren, demonstrierten in den letzten elf Tagen über 30.000 Menschen aus fast zwei Dutzend Fabriken. Viele Arbeiter hatten seit über einem Jahr keinen Lohn erhalten, andere warten seit Monaten auf ihre Rente. Sie fordern die Freilassung verhafteter Arbeitersprecher und beschuldigen die Fabrikmanager, sich selbst üppige Premien zu genehmigen statt die Arbeitslosenhilfe auszuzahlen. „Dies sind die größten organisierten Demonstrationen seit 1989“, erklärte der Gewerkschafter Han Dongfang, der nach dem Tiananmen-Massaker ins Gefängnis geworfen worden war. Er gibt inzwischen in Hongkong das China Labour Bulletin heraus und ist einer der bestern Kenner der Arbeiterprobleme.

Drei Anführer der Proteste von Liaoyang wurden laut Berichten am Mittwoch festgenommen, als sie mit den Behörden verhandeln wollten. 2.000 bewaffnete Polizisten wurden gegen die Demonstranten eingesetzt. Einen vierten Arbeitersprecher, den früheren Metallarbeiter Yao Fuxin, hatten Zivilpolizisten bereits am Sonntag verschleppt, berichtet Bürgerrechtler Han.

Was die Behörden besonders beunruhigt: Die Arbeiter von Liaoyang kamen aus bis zu 22 Fabriken, waren sehr gut organisiert und forderten „unabhängige Gewerkschaften“ – was in der Volksrepublik als subversiv gilt. Chinas staatlich kontrollierte Zeitungen und Fernsehsender hatten die Proteste bisher verschwiegen. Erst gestern bezeichnete die Liaoyang Zeitung die verhafteten Arbeitersprecher als Teil einer „kleinen Gruppe von Unruhestiftern“.

Informationen über die Proteste sind nur durch Bürgerrechtler im Exil und internationale Medien bekannt geworden. Premierminister Zhu Rongji hatte erst kürzlich versprochen, sich stärker für die Verlierer der Wirtschaftsreformen einzusetzen. Die Probleme sind groß: Zehn Prozent der 300 Millionen Städter in China gelten als „arm“, 4,5 Prozent sind offiziell arbeitslos, Fachleute halten acht bis neun Prozent für realistischer.