: Endlos auf den Scherben getanzt
■ „Jour Nix“: Melancholische Rückschau auf die Pubertät im Neuen Cinema
Letztens am Steindamm: Fünf Menschen in schwarzen T-Shirt schwärmen auf der Bühne aus. „Why“ steht quer über ihre Brust gedruckt. Sie schnappen sich ihre Instrumente, und los geht's. Die Geister der Vergangenheit werden beschworen. Wiebke Puls singt von den weltbewegenden Problemen der Pubertät. Mit der Combo Die Deprimierten gestaltet sie den Jour Nix in der Schauspielhaus-Dependance Neues Cinema.
Heimliches Knutschen nachts auf dem Spielplatz, der Albtraum rot zu werden: Das sind Themen, die einst den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachten. Puls hat die Lieblingslieder ihrer Teenie-Zeit hervorgekramt und interpretiert sie neu. „Ich kann alles sein, was ich will“, behauptete sich schon Rio Reiser. „Du wirst kleiner, wenn Du weinst“, ist die pessimistische Variante von Heinz-Rudolf Kunze.
Zwischen den Liedern liest Puls aus dem Tagebuch einer Dreizehnjährigen. Darin geht es um Para-noia, ausgelöst vom Tuscheln der Eltern: „Die wollen mich ins Internat stecken.“ Meistens aber um verliebte Jungs: „Ivo, der ist auch in mich ...“
Die Pubertät wird zur Heldenzeit ausgerufen. Nicht nur, weil die Idole dieser Zeit so radikale Forderungen ans eigene Leben stellten. Auch wegen der eigenen Verwirrung: „Es sind andauernd Weltbilder zu Bruch gegangen, doch wir haben auf den Scherben weitergetanzt.“ Derweil wechselt die Band munter die Instrumente. Der Drummer schlägt auf einer Barbie-Puppe den Takt.
Auch die Melodika, unentbehrliches Utensil musikalischer Früherziehung, kommt zum Einsatz. Die Musiker sind Teil des szenischen Spiels, das die Lieder verbindet. Im Chor sprechen sie die schönsten Liebesgedichte aus der Bravo-Girl. Der Rahmen hätte kaum besser gewählt sein können. Das Neue Cinema versprüht schon im Foyer den angestaubten Glanz der Achtziger. Der Tresen, an dem einst Popkorn und Eiskonfekt verkauft wurden, ist noch immer mit Spiegelfliesen beklebt; wer würde da nicht melancholisch...
Der glühende Funke ist bei der Premiere noch nicht übergesprungen. Die Zuhörer staunten atemberaubt, nur gelegentlich gingen sie mit. Aber beim ersten Mal ist ja sowieso alles viel schwieriger.
Christian Rubinstein
weitere Vorstellungen: 8. und 24. April, jeweils 20 Uhr, Neues Cinema
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