Apokalypse in Blau

Tuschezeichnungen in der Bäckerei: Die Künstlergruppe „Artenoa“ will Kunst unters Volk bringen. Zwanzig Künstler präsentieren in Friedrichshain ihre „Kunst in öffentlichen Räumen“ – in Geschäften, Restaurants und Werkstätten

Alexandra Holownia wartet schon. Sie ist Mitte Dreißig und trägt einen DIN-A4-Hefter mit Papieren unter dem Arm. Ich ahne schon, dass der für mich ist. Im Frisierladen „Haarwerk“ in der Grünbergstraße hängen die ersten Bilder: bunte Acrylimpressionen von Andrea Damp, viel Blau und Grün.

Alexandra Holownia sagt, die Künstlerin sei an der Ostsee geboren und aufgewachsen, das sehe man in ihrer Arbeit. Ich nicke, sage „das liegt dann ja auf der Hand“, und achte darauf, dass ich nicht auf den Pitbull der Friseurmeisterin trete, der neben dem Stuhl liegt, hinter dem eins der Ostseebilder hängt. Frau Holownia raschelt mit ihren Konzeptpapieren. Ich versuche, keine weiteren Deutungen laut werden zu lassen. Gucke nur. Dann sind wir wieder auf der Straße.

Frau Holownia von der Künstlergruppe „Artenoa“ erklärt mir ihr Projekt: Es nennt sich „Kunst in öffentlichen Räumen“ und präsentiert die Arbeiten junger Künstler in Friedrichshainer Läden und Lokalen. Man wolle die – in Museen und Galerien dem Alltag entrückte – Kunst wieder unters Volk bringen, sagen die Initiatoren, die von der „Quartiersentwicklung Boxhagener Platz“ unterstützt werden. In sechzehn Geschäften, Restaurants und Werkstätten stellen zwanzig Künstler aus. Frau Holownia spricht von denen, die „Schwellenangst“ haben, die nicht ins Museum gehen, die von der „Edukation her“ keine Idee von Kunst haben. Die brauchten also in der Kneipe nur den Kopf zu heben und könnten schon mit dem Bier Kunst tanken.

Während wir so gehen, und Frau Holownia sich in Fahrt redet, über die Wirkung „demokratischer“ Kunst, die Bedeutung der Netzwerke für junge Künstler und die Alternativen vom Friedrichshain, denke ich an die DDR und ihre Fabriken, in denen es Kantinen gab mit Kunst an den Wänden: Riesige Mosaikflächen oder Wandmalereien, die Arbeiter zeigten, wie sie die sozialistischen Errungenschaften einlösten, im Verbund mit Ingenieuren in weißen Kitteln. Manchmal waren auch Pioniere mit roten Halstüchern abgebildet. Stolze „Werktätige“ waren das, wie man die Proletarier in der DDR nannte. Sozialistischer Realismus sollte das sein, obwohl es zumindest in den Achtzigerjahren kaum noch Arbeiter gab, die von der „Sache des Sozialismus“ überzeugt gewesen wären. Wir mochten die Kantinenkunst nicht, wir fanden sie hässlich und albern. So wie die Figuren auf den Bildern wollte niemand sein. Daran muss ich denken, als mir Frau Holownia die Kunst im öffentlichen Raum zeigt.

Obwohl die keine heroischen Arbeiter abbildet. Im Selbsthilfetreffpunkt, in dem gerade eine Kaffee-Kuchen-Party zum Frauentag steigt, sehen wir Arbeiten in Blau zum Thema Universum und Apokalypse. Die Rentnerinnen sitzen am Tisch und gucken auf ihren Streuselkuchen, wir stehen vor der Wand, mit nach oben gerecktem Hals. Frau Holownia hat die blauen Bilder gemalt, als sie noch Bühnenbildnerin war in Polen. Heute ist sie Kuratorin und schreibt für polnische Kunstmagazine. Als sie nach Berlin gezogen ist, wollte sie unbedingt in den Friedrichshain, weil hier alles „so jung und frisch“ ist. Frau Holownia empfindet die Gegenwart der hippen Mittzwanziger, die ihre Nachmittage auf der Simon-Dach-Straße verbringen, als „multikulturell“ und „inspirierend“. Sie malt Frauen mit drei Brüsten, die sich in Bäume verwandeln. Die Schwarzweißzeichnungen finde ich schön. Den Ort, an dem sie hängen, finde ich hässlich.

Wir sind im „Café Garbe“ in der Frankfurter Allee, mit schwarzen Pressholztischen, unwillig dreinschauender Bedienung und dem lauten „Prachtboulevard“ vor den Fenstern. Die Gäste tragen schlecht sitzende Anzüge, Wollpullover mit Mustern oder bauchfreie Tops. Auf der anderen Seite der Frankfurter sitzen das Wohnungs- und Sozialamt und die Abrechnungsstelle der Telekom. Dass Frau Holownia und ich zwischen den Tischen hin und her gehen, und auf die Bilder an der Wand schauen, irritiert die Gäste. Unwillig blicken einige zu uns hoch. In einer türkischen Bäckerei, die sich als Café mit geschwemmten Wänden in schreiendem Orange versucht, hängen zarte Tuschezeichnungen. Am frühen Nachmittag ist das Café bis auf drei schnauzbärtige Männer am Cheftisch leer, ein blonde Verkäuferin zählt ihre Stunden bis zum Feierabend. Frau Holownia erzählt mir von ihren Verständigungsschwierigkeiten. „Manche Ladenbesitzer“, sagt sie seufzend, „konnten sich nicht für die Kunst erwärmen, obwohl sie bei dem Projekt schon zugesagt haben.“ Die Geschäftsleute konnten sich die Künstler aussuchen, nach ihrem Geschmack. „Und dann, als alles fertig war, wollte jemand plötzlich nur noch ein Bild aufhängen statt der Serie, wie es ausgemacht war.“

Im Café Conmux sitzen müde Gestalten an den Tischen, an den Wänden hängen kleine Ölbilder von Nicol Zelwerowicz, die Feen mit blauen Haaren zeigen und verlassene Königstöchter. Sie haben schöne traurige Kindergesichter. Ich will wissen, wer denn bei den Ausstellungseröffnungen und der monatlichen „arttour“, die an die Orte der öffentlichen Kunst führt, so erscheint. Ob das Leute sind, die nichts mit Kunst zu tun haben? Oder doch? Frau Holownia sagt, dass es Studenten sind, Kunstwissenschaftler, Künstler und ihre Freunde. „Die Leute finden die Idee prima, fragen nach, und lernen die Künstler kennen“, schwärmt die Kuratorin. Und die anderen, die mit der fehlenden „Edukation“? „Man weiß es noch nicht“, gibt sie zu, „da gab es bisher keine Zeichen.“ JANA SITTNICK

Bis Dezember wechselnde Ausstellungen im Boxhagener Kiez, Friedrichshain. Kontakt: Alexandra Holownia, Tel.: 29 77 95 88. Die nächste „arttour“ ist heute, 15 Uhr, ab dem Antiquariat Gregor Gog, Boxhagener Straße 35.