Kaninchen vor der Schlange

In Mailand startet heute der klassischste aller Frühjahrsklassiker. Italiens Pedaleure haben dabei nur ein Ziel: Erik Zabel nicht zum fünften Mal gewinnen zu lassen

MAILAND taz ■ Hans-Michael Holczer ist nicht gerade für übertriebenen Respekt vor großen Projekten bekannt. Frech kaufte er im vergangenen Jahr die Nummer zwei der Weltrangliste, Davide Rebellin, vom Markt und drängt nun prompt mit seinem schwäbischen Rad-Team Gerolsteiner auf die große Bühne des Radsports. Dass Rebellin in der italienischen Presse nun auch noch agekündigt hat, Mailand–San Remo, den ersten Klassiker des Frühjahrs, gewinnen zu wollen, hält jedoch selbst Holczer für etwas gewagt. „Wahrscheinlich fühlt er sich als Italiener dazu verpflichtet“, glaubt Holczer.

Die 287 Kilometer lange Fahrt vom Norden an die Riviera ist im italienischen Radsport nach dem Giro schlichtweg das Größte. Umso verzweifelter sind die Italiener darüber, dass ihnen seit dem Triumph von Gabriele Colombo 1996 kein Sieg mehr gelungen ist. Vier Mal sprintete seither Erik Zabel auf der Via Roma als Erster über die Ziellinie, einmal entwischte der moldawischstämmige Belgier Andrej Tchmil. Da geht Radsport-Italien so langsam die Geduld aus. Wie das Kaninchen vor der Schlange seien Italiens Pedaleure vor Zabel und dem Telekom-Express erstarrt, um sich nahezu widerstandslos von ihm platt walzen zu lassen, hieß es schon letztes Jahr in den Gazetten. Kritik an den Deutschen wurde freilich ebenfalls laut: Mit ihrer Kraftmeiertaktik hätten sie die einstige Eleganz des klassischsten aller italienischen Rennen zerstört. Und überhaupt: Erik Zabel verfälsche den Sinn des Saisonauftaktes, indem er schon im November beginne, für Mailand–San Remo zu trainieren.

Marcel Wüst weiß derlei Empfindlichkeiten gut einzuordnen. Der Kölner war bis vor eineinhalb Jahren selbst einer der härtesten Gegner Zabels und ist nun im Management des dritten deutschen Profirennstalls der ersten Kategorie, des Essener Team Coast. Das mit der Telekom-Dominanz habe er im vergangenen Jahr nicht so gesehen, sagt Wüst, das hätten die Italiener erfunden, nachdem Zabel sie mal wieder an der Nase herumgeführt hatte. Und einen Zabel-Komplex der italienischen Fahrer gebe es gleich gar nicht. Wüst: „Das sind viel zu große Machos, als dass das an ihrem Selbstbewusstsein kratzen könnte.“

Obermacho ist Mario Cipollini, der Toskaner mit den dandyhaften Auftritten. Cipollini dürfte am Samstag auch Zabels gefährlichster Herausforderer sein. Die neu gegründete italienische Squadra „Acqua e Sapon“ (Wasser und Seife) wurde komplett um Cipollini herum aufgebaut und trat zu Saisonbeginn mit dem ausdrücklichen Ziel an, Mailand–San Remo gewinnen zu wollen. Pikanterweise steht auch noch Giovanni Lombardi in Cipollinis Diensten, der zuvor bei Telekom für Zabel ackerte. Mit der Heuer Lombardis revanchierte sich Cipollini dafür, dass Telekom ihm seinen wichtigsten „Apripista“, so heißen die Anfahrer der Sprint-Asse, Gianmatteo Fagnini, im vergangenen Jahr weggekauft hatte. In diesem Jahr muss Zabel allerdings auf dieTempomacherdienste Fagninis verzichten – der Italiener brach sich vor zwei Wochen bei einem Sturz das Schlüsselbein.

Beobachter der bisherigen Saison bescheinigen „Super-Mario“ jedoch nicht nur deswegen leichte Vorteile. Da kurz vor der Zielankunft in San Remo zwei Hügel zu überwinden sind, zählen im Finale nicht nur die reinen Sprinterqualitäten. Zwar kam Zabel unter den Sprintern bislang am besten über die Berge, doch auch Cipollini hat seine Kletterfähigkeiten deutlich verbessert. Und auf der Via Roma traut Marcel Wüst Cipollini den größeren Punch zu. Telekom-Chef Walter Godefroot nimmt solche Spekulationen freilich gelassen hin. „Da sind 25 Teams am Start und alle wollen gewinnen“, sagt er. Dass sie bei Zabels Lieblingsrennen wirklich gegen den Berliner bestehen können, müssen sie allerdings erst noch beweisen. SEBASTIAN MOLL