Sozialhilfe ist ein Teufelskreis

betr.: „Jagd auf ‚Schmarotzer‘ “, taz vom 19. 3. 02

Es wäre ratsam, wenn Herr Balzer einmal selbst einige Monate von Sozialhilfe leben würde, damit er einen Einblick in die ach so großen Summen (zirka 286 Euro in Berlin monatlich für Haushaltsvorstände und Alleinstehende, zuzüglich Mietkosten) bekäme, mit denen die SozialhilfeempfängerInnen Missbrauch treiben. Wer von einem derartigen Betrag monatlich leben muss, betreibt das nicht als Hobby zwecks Arbeitsvermeidung, sondern aus nackter Existenzangst, und muss zwangsläufig ein bisschen mogeln, um sich neben so extravagenten Dingen wie Essen und Energiekosten auch ab und zu ein Buch leisten zu können. Theater-, Kino- und Restaurantbesuche kann der/die Sozialhilfeempfängerin sich verkneifen, eine Teilnahme am gesellschaftlichen Leben kann nur mit der Familie oder anderen SozialhilfeempfängerInnen stattfinden.

Es ist ein Teufelskreis, wie im Knast, der Mensch lernt nur andere Kriminelle kennen und ist stigmatisiert. Nur sind SozialhilfeempfängerInnen weder Schmarotzer noch kriminell. Ihre kleinen Mogeleien dienen dem Überleben, dem Bedürfnis, auch einmal in einem Café zu frühstücken, sich eine literarische Neuerscheinung oder angesichts des jüngsten Preisanstiegs einmal so richtig knackiges, frisches Gemüse leisten zu können. Gerade was Bücher und Zeitungen angeht, ist es um die SozialhilfeempfängerInnen schlecht bestellt. Zwar wird immer auf die öffentlichen Büchereien verwiesen, doch die werden reihenweise geschlossen und bekommen keine Zuschüsse für Neuerscheinungen. So muss der/die lesewillige SozialhilfeempfängerIn sich das Geld für Bücher im wahrsten Sinne des Wortes vom Munde absparen.

Wenn Herr Balzer seine Sozialkontrollettis ausschickt, um Schaden anzurichten, ist ihm wahrscheinlich gar nicht klar, dass die zu Kontrollierenden das Recht haben, den Kontrollettis den Zutritt zu ihren Wohnungen zu verweigern, denn die Beweislast liegt bei den Sozialämtern, die müssen erst einmal und in jedem einzelnen Falle die Betrugsabsicht beweisen. Da dies ein Ding der Unmöglichkeit ist und die meisten SozialhilfeempfängerInnen über ihre Rechte nicht informiert sind, bleibt der Generalverdacht bestehen, und nur so kommen Menschen wie Herr Balzer zu ihren Vorurteilen. Natürlich ist Herr Balzer für den Posten eines Sozialstadtrats völlig ungeeignet und sollte lieber irgendwo arbeiten, wo er nicht über Menschen zu entscheiden hat. Wer einem Menschen, der aus Verzweiflung mit Selbstmord droht, erpresserische Absichten unterstellt, wer Sozialhilfe beziehenden Müttern unterstellt, sie hätten ihre Kinder geboren, um sich nicht vom Kindesvater, sondern von Vater Staat aushalten zu lassen, mit dessen Achtung vor Menschenwürde ist es schlimm bestellt.

Die Menschenrechtsorganisationen sollten sich einmal der permanenten Verletzung der Menschenwürde der SozialhilfeempfängerInnen annehmen. KERSTIN WITT, Berlin