Ein Kinderspiel der Alpha-Tiere

Es waren zwei Worte aus Brandenburg: Ja und Nein. Als sie fielen, war keiner überrascht. Und doch fegte ein Sturm der Entrüstung durch den Bundesrat

aus Berlin JENS KÖNIG

Im entscheidenden Moment war alles ein Kinderspiel. Zwei Worte nur mußten gesagt werden. „Ja“, sagte Alwin Ziel, der brandenburgische Arbeitsminister. „Nein“, sagte Jörg Schönbohm, der brandenburgische Innenminister.

Klaus Wowereit, der Regierende Bürgermeister von Berlin und amtierende Bundesratspräsident, stellte fest, dass das Land Brandenburg uneinheitlich über das Zuwanderungsgesetz abgestimmt habe. Laut Artikel 51, Absatz 3 des Grundgesetzes könne ein Land aber nur eine Stimme abgeben. Also fragte Wowereit den brandenburgischen Ministerpräsidenten Manfred Stolpe: „Ist Brandenburg für das Zuwanderungsgesetz?“ Stolpe antworte mit ernster Miene: „Als Ministerpräsident des Landes Brandenburg sage ich: Ja.“ Dann wieder Wowereit: „Damit stelle ich fest: Brandenburg hat mit Ja gestimmt.“

Da war das Kinderspiel vorbei, und ein Sturm der Entrüstung fegte durch den Bundesrat. Im Preußischen Herrenhaus in Berlin, sonst ganz ein Ort der Dinstinktion, ging es plötzlich zu wie in einer Eckkneipe im prolligen Neukölln. „Nein!“, rief Hessens Ministerpräsident Roland Koch. „Als Bundesratspräsident sind Sie an das Grundgesetz gebunden!“, brüllte der saarländische Ministerpräsident Peter Müller. „Das ist glatter Rechtsbruch!“, rief Koch wieder und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Dann erneut Müller: „Unterbrechen Sie die Sitzung!“ Auch Koch war mit dem armen Wowereit noch lange nicht fertig: „Sie manipulieren hier die Entscheidung des Bundesrates!“

Wowereit blieb freundlich, es sah sogar so aus, als könne er sich ein Lächeln nicht ganz verkneifen. Er fuhr mit der Abstimmung fort. Von Bremen bis Thüringen wurde jedes einzelne Land aufgerufen, und am Ende stellte der Bundesratspräsident fest, dass das Einwanderungsgesetz angenommen ist. Jetzt ging Bernhard Vogel, Ministerpräsident aus Thüringen, ans Mikrofon. „Wir sind Zeuge eines ungewöhnlichen Vorgangs“, sagte Vogel und konnte seine Erregung nur mühsam unterdrücken. „Diese Entscheidung widerspricht klar und eindeutig dem Grundgesetz.“ Danach wurde die Sitzung unterbrochen, und der Hühnerhaufen schreckte auf. Stolpe verschwand mit seinen Getreuen im Brandenburg-Zimmer des Bundesrates. Schönbohm verbarrikadierte sich mit den CDU-Ministerpräsidenten in einem anderen Raum ein paar Gänge weiter. Die SPD-Ministerpräsidenten saßen ohne Stolpe zusammen.

Es war das eingetreten, was seit dem frühen Morgen alle erwartet hatten. Stolpe und Schönbohm wussten seit Donnerstagnachmittag voneinander, dass sie im Bundesrat mit Ja und Nein stimmen würden. Der Druck, der auf dem Gesetz lastete, weil es bis zum Tag der Abstimmung zu einem Showdown zwischen dem Bundeskanzler und seinem Herausforderer hochstilisiert worden war, entlud sich auf dem kleinen Brandenburg. Auf seine Stimmen kam es an. Seit Tagen schon wurde deswegen über einen Bruch der Großen Koalition spekuliert. Stolpe konnte nicht für ein Vermittlungsverfahren und damit gegen seinen Kanzler stimmen – und Schönbohm nicht für das Gesetz und damit gegen seinen Kanzlerkandidaten.

Auch Schröder und Stoiber war das alles natürlich nicht verborgen geblieben. Am Donnerstagabend saß der Kanzler mit den SPD-Ministerpräsidenten in der Bremer Landesvertretung in Berlin zusammen, und die unionsregierten Länder trafen sich noch am Freitagmorgen mit Schönbohm im Reichstag. Als Stoiber kurz nach neun Uhr den Bundesrat betrat, nahm er den Tumult des Tages schon vorweg. „Wenn das Zuwanderungsgesetz heute zustande kommt, dann nur gegen den Willen der Union“, sagte der Kanzlerkandidat und fügte völlig emotionslos hinzu: „Wenn ich Bundeskanzler bin, werde ich das Gesetz sofort novellieren.“

Überraschungen konnte es also keine mehr geben, aber die Anspannung war in den Gängen des Bundesrates überall zu spüren. Und als der entscheidende Moment gekommen war, schien jeder einzelne Ministerpräsident, bei aller kalkulierten Erregung, die man vor allem einem Eisblock wie Roland Koch unterstellen darf, davon berührt zu sein. Schließlich hatte erst zum zweiten Mal in der über 50-jährigen Geschichte des Bundesrates ein Bundesland geteilt abgestimmt. Doch der erste Fall aus dem Jahre 1949 führte damals im Bundesrat zu großer Heiterkeit, und schon ein paar Tage später war die Sache schon wieder vergessen.

Vergessen wird den gestrigen Tag hingegen keiner so schnell. Ein nachdenklicher Jörg Schönbohm kündigte in der Debatte sein Nein offen an. Der ehemalige General versuchte seinen Stolz zu wahren und zitierte den Spruch eines Generals von Friedrich II.: „Ich wähle die Ungnade, wo Gehorsam keine Ehre bringt.“ Ein detailversessener Bundesinnenminister ließ sich lang und breit über Härtefallklauseln, Zuwanderungsbegrenzung und rumänische Spätaussiedler aus. Er kämpfte um sein Gesetz, ging insgesamt dreimal ans Mikrofon und war doch drauf und dran, sein Gesetz noch totzureden. Und da war ein cooler niedersächsischer Ministerpräsident Siegmar Gabriel, der an seinen Vorgänger, den jungen Gerhard Schröder, erinnerte. Gabriel sagte als einziger offen, welches Stück gestern eigentlich gespielt wurde: „Es geht in Wahrheit doch um die Frage, wer das politische Alpha-Tier in Deutschland ist.“

Kann sein, dass sich die Alpha-Tiere Schröder und Stoiber gestern beide keinen Gefallen getan haben. Jetzt entscheidet über das Zuwanderungsgesetz erst mal Johannes Rau. Der war auch mal ein Alpha-Tier. Aber das ist schon ein paar Jährchen her.