Weiche Kaschmirwolle mit rauen Folgen

Chinas Bauern, Hirten und Politiker träumen vom großen Geld mit der Kaschmirwolle – und schaffen immer mehr Ziegen an. Die tragen zur Versteppung des mongolischen Graslands bei. Die Folge: Tiere verdursten, Dörfer verwaisen

PEKING taz ■ Ein Kamelbaby verendet am Straßenrand, seine Mutter hält sich gerade noch auf den Beinen. Kamele mit verschrumpelten Höckern und Flanken, an denen nur noch Fellfetzen hängen, stehen im Hintergrund. Bleiche Gerippe liegen im Wüstensand. Solche Bilder hat Lu Tongjing fotografiert. Wochenlang ist der Rentner und Hobbyfotograf dafür mit Rucksack und Kamera durch das Alaschan-Becken im Nordwesten Chinas gewandert. Jetzt läuft er mit den Bildern durch Peking, ruft beim Fernsehen an, besucht Zeitungen und Ämter, um Alarm zu schlagen: „Die Kamele sterben!“

Für Lu, der sich selbst als „Freiwilliger im Einsatz für die Umwelt“ bezeichnet, ist der Tod der Kamele das letzte Warnzeichen einer Katastrophe, vor denen Ökologen seit Jahren warnen: In der Inneren Mongolei, einer chinesischen Provinz dreimal so groß wie Deutschland, schiebt sich die Wüste unbarmherzig über Oasen und Grasland. Hunderttausende Tiere sind in den letzten drei Jahren verendet oder kurz vor ihrem Tod geschlachtet worden. Manche Dörfer liegen verlassen da, weil es kein Wasser mehr gibt. 31 Millionen Hektar Grasland verdorrten. Sogar in Peking sind die Folgen zu spüren. Immer häufiger tragen heftige Stürme feinen Sand aus dem Alaschan und anderen Wüsten über tausende Kilometer nach Osten und hüllen die Hauptstadt in gelbe Wolken. Die Sandstürme der letzten Wochen waren die schlimmsten seit zehn Jahren.

Nicht nur Kamele hat Lu fotografiert, sondern auch Ziegen: Manche haben nackte Flecken an Bauch und Rücken, darunter spannt sich die Haut um die Rippen. Viele sind mit Stoffresten oder zerrissenen Hemden bedeckt. „Die Lumpen sollen verhindern, dass die Tiere sich gegenseitig das Fell vom Leibe fressen“, berichtet Lu. Dabei sind die Ziegen – ebenso wie die Kamele – nicht nur die Opfer der großen Dürre, die Chinas Nordwesten seit drei Jahren plagt: Sie sind vielmehr mitschuldig. Denn ein großer Teil der Böden hätte die lange Trockenheit wohl überstanden – wenn die Zahl der Herden in den letzten zwanzig Jahren nicht so dramatisch gestiegen wäre. In der Inneren Mongolei wuchs der Viehbestand auf 1,6 Millionen Tiere, darunter 80 Prozent Ziegen. Die Ziegen richten besonders viel Unheil an, denn sie begnügen sich nicht mit den Halmen, sondern rupfen die Wurzeln gleich mit aus.

Ein Grund für den dramatischen Zuwachs der Herden: Feine Ziegenwolle, ob als Kaschmirtuch oder Pashminaschal, ist auf dem Weltmarkt hoch begehrt. Über tausend Kaschmirfabriken gibt es in China mittlerweile. Hirten, Bauernfamilien und Politiker träumen davon, mit Hilfe der lukrativen Ziegenwolle ihr Glück zu machen. Trotz kaputter Böden und düsterer Warnungen von Ökologen hoffen sie auf ein Ende der Dürre und glauben, dass damit alle Probleme gelöst würden. Für Umweltschützer Lu gibt es deshalb nur einen Weg: „Die Regierung muss die Ziegen verbieten und die Zahl der Kamele begrenzen“, fordert er. Mit moderner Technologie sollte China statt dessen die Wolle der für das Grasland weniger schädlichen Schafe behandeln, damit sie zu feinen Tüchern verarbeitet werden kann.

Der Kampf des rührigen Herrn Lu ist symptomatisch: Zwar erlaubt die Regierung mittlerweile einige Aktionsgruppen, doch weil die Partei um ihr Machtmonopol fürchtet, dürfen die nicht ohne Erlaubnis an die Öffentlichkeit treten und auch nicht zu viele Mitglieder haben. Einzelkämpfer wie Lu allerdings duldet die Obrigkeit: Sie können ihr nicht gefährlich werden.

Lu will nun eine Fotoausstellung organisieren, um seine Landsleute aufzurütteln. Im chinesischen Fernsehen ist der ungewöhnliche Mann in mehreren Umweltsendungen aufgetreten, auch Zeitungen schrieben über den „Ruheständler“, der früher einmal als Arbeiter in einem Lagerhaus und als Kumpel im Kohlebergwerk gearbeitet hat. Lu wünscht sich auch eine Show im Ausland, „damit die Leute in Japan und in Europa aufhören, Kaschmirpullover zu kaufen!“ Aber für so ein Projekt reicht seine Rente nicht aus. JUTTA LIETSCH