Rau muss es richten

Mit erstaunlicher Geschlossenheit erklärt die Union den Bundespräsidenten zum Schiedsrichter im Zuwanderungsstreit

aus Berlin PATRIK SCHWARZ

Im Terminkalender von Johannes Rau war eine Verfassungskrise eigentlich nicht vorgesehen. Der Bundespräsident hat frei an diesem Wochenende nach der turbulenten Bundesratssitzung vom Freitag. Seine beiden engsten Mitarbeiter sind sogar im vorösterlichen Urlaub: der Chef des Präsidialamtes, Rüdiger Frohn, ebenso wie der neue Pressesprecher Klaus Schrotthofer. Offenbar hatte niemand in Schloss Bellevue damit gerechnet, dass die Oppositionsparteien CDU und CSU ausgerechnet den alten Sozialdemokraten Johannes Rau zum Schiedsrichter im Streit um das Zuwanderungsgesetz erklären würden.

Schon am Freitag hatte die Union von einer Verfassungskrise gesprochen. Am Wochenende legte Kanzlerkandidat Edmund Stoiber nach. „Wir gehen davon aus, dass der Bundespräsident diesen Verfassungsverstoß nicht mitträgt“, sagte der bayerische Ministerpräsident. Dies sei „ein ganz deutlicher Appell, mehr noch: eine klare Erwartung an den Bundespräsidenten.“ Bundesratspräsident Klaus Wowereit hatte bei der Abstimmung die „Ja“-Stimme von Ministerpräsident Manfred Stolpe (SPD) als Zustimmung des Landes Brandenburg gewertet, obwohl Innenminister Jörg Schönbohm (CDU) zuvor seine Ablehnung deutlich gemacht hatte.

Mit ihrer Strategie versucht die Union, sich für den kommenden Bundestagswahlkampf eine günstigere Ausgangsposition zu verschaffen. Gelingt es ihr, Rot-Grün den Vorwurf der Trickserei anzuhängen, hat sie auf Monate hinaus ausgesorgt. Johannes Rau kommt dabei eine besondere Rolle zu. Die Union sieht in ihm das schwächste Glied. Unumwunden heißt es: „Rau ist jetzt in der Zwickmühle zwischen seiner Herkunft und seinem heutigen Amt.“

Tatsächlich steckt der Präsident in einem Dilemma. Auch wenn er selbst es als zutiefst ungerecht empfinden wird, kann er seiner Vergangenheit kaum entkommen. Fast fast 20 Jahre war er SPD-Ministerpräsident in Nordrhein-Westfalen, 17 Jahre stellvertretender SPD-Bundesvorsitzender. Schließt er sich den Bedenken der Opposition an, stünde die rot-grüne Koalition blamiert da. Setzt das Staatsoberhaupt seine Unterschrift unter das Gesetz, kann die Union ihn immer noch der Kumpanei mit der Regierung bezichtigen und in Karlsruhe klagen.

Theoretisch muss den Präsidenten das Parteiengezänk nicht berühren. Schließlich soll er sich bei der Prüfung des Gesetzes nicht von politischen Erwägungen leiten lassen. Doch die juristische Lage ist mangels Präzedenzfall mehr als unübersichtlich – und die Union verweist bereits auf prominente Experten, die Stoibers Interpretation stützen. Mit Roman Herzog bietet sie dabei nicht nur einen ehemaligen Bundespräsidenten auf, sondern in Personalunion einen früheren Verfassungsgerichtsvorsitzenden. Herzog steht nicht allein da. Sein Karlsruher Vorgänger Ernst Benda erklärte am Wochenende, aus dem Grundgesetz ergebe sich für ihn „logisch das Ergebnis, dass die Stimmen Brandenburgs nicht hätten gewertet werden dürfen.“ Jenseits aller parteipolitischen Pressalien könnte Rau sich also genötigt sehen, das Verfahren im Bundesrat für unzulässig zu erklären. Dann würde ausgerechnet der Bundespräsident, der als Schirmherr der Einwanderer in Deutschland angetreten war, einer vernünftigen Regelung der Einwanderung den Riegel vorschieben.

Raus Nöte sind Stoibers Triumph. Am Freitag hätten CDU und CSU eine Geschlossenheit bewiesen, die ihnen viele nicht zugetraut hätten, sagt einer aus dem inneren Kreis. Jetzt setze die Union ihre Linie „in einer Härte und Konsequenz durch, mit der die Koalition nicht gerechnet hat“. Rau wohl auch nicht.

Stoibers Mannen zielen auf Rau und meinen Gerhard Schröder. Schuld an der Eskalation sei freilich der Kanzler selbst, rechtfertigt man die Linie. Mit dem Zuwanderungsgesetz habe er Stoiber eine Niederlage bereiten und den eigenen Wiederaufstieg einleiten wollen, meint ein Unionsmann. Stattdessen wehe jetzt „der Eiseshauch der Niederklage ins Kanzleramt“.

Rau und seine Mitarbeiter lassen bisher mit keinem Mucks verlauten, wie ihre gesetzlich vorgeschriebene Prüfung ausgehen könnte. Nur eines wird der Präsident wohl nicht tun, auch wenn es ihn seiner Nöte fürs Erste entheben würde: warten, bis die Bundestagswahl vorbei ist – und damit das Thema Zuwanderung aus der Schusslinie. Einer, der ihn kennt, meint knapp: „Da gibt es keine Taktiererei.“