ein chilene in berlin
: Marco Fajardo über Tabubrüche

Gardinenlose Fenster und Voyeure

Es gibt viele Dinge in Deutschland, die mir merkwürdig vorkommen. Fenster ohne Gardinen zum Beispiel. Die ersten Tage meines Aufenthaltes verbrachte ich bei Bekannten in Dresden und wurde Zeuge einer Diskussion zwischen einer alten Freundin meiner Eltern und ihrer 17-jährigen Tochter. „Wir haben doch nichts zu verstecken!“, verteidigte die Mutter die gardinenlosen Fenster. „Wieso sollen die Nachbarn bei uns ins Wohnzimmer sehen können?“, klagte die Tochter.

In Berlin wollte ich die Probe aufs Exempel machen. Ich wohne in Friedrichshain, direkt an der Frankfurter Allee, und dort gibt es jede Menge Fenster ohne Gardinen. Eines Abends setzte ich mich ans Küchenfenster, um herauszufinden, ob meine Nachbarn etwas zu verbergen haben. Heimlich hoffte ich, eine attraktive Blondine zu erspähen. Zuerst knipste ich das Licht aus. Doch leider war in den meisten Wohnungen gegenüber auch kein Licht, oder Gardinen oder Milchglasfenster versperrten mir den Blick. Dann endlich, im dritten Stock, in der Küche, brannte Licht. Ein junges, hübsches Mädchen um die 20, mit langen, braunen Haaren, die zu einem Zopf geflochten waren, stand am Herd. Kein schlechter Anfang. Doch außer dass sie ununterbrochen im Topf rührte, passierte nichts. In der vierten Etage entdeckte ich im Lichtschein eines Fernsehers einen jungen Mann und eine junge Frau auf einem Sofa. Na also! Doch die beiden begnügten sich damit, gelangweilt in die Glotze zu schauen. Nach ein paar Minuten brach ich meine Beobachtungen ab und schaltete den Fernseher an. Dort gibt es immer Blondinen.

In Chile, wo die Menschen ihre Privatsphäre wie ihren Augapfel hüten, wäre ich vor drei Jahren fast zum Obervoyeur geworden – bei der mit staatlichen Geldern geförderten Kunstaktion „La Casa de Vidrio“. Eine 20-jährige Schauspielerin wohnte in einem Glashaus und ließ sich rund um die Uhr beim Schlafen, Duschen, Pinkeln und Kochen zusehen – in einer Hauptverkehrsstraße, wenige Blocks vom Regierungssitz. Nur leider konnte ich nicht einen einzigen Blick auf sie erhaschen. Es standen zu viele Männer vor dem Glashaus. Nach drei Tagen musste das Projekt beendet werden. Die Massen vor dem Haus brachten regelmäßig den Verkehr zum Erliegen. Zudem befand sich gegenüber eine Kirche, und die Gläubigen wollten solch einen Tabubruch nicht dulden. Ich werde weiterhin nachts ohne Licht in meiner Friedrichshainer Küche sitzen. Nicht in erster Linie, um Strom zu sparen.

Marco Fajardo (26) arbeitet seit drei Jahren als Journalist in Chile und ist zurzeit im Rahmen des Journalistenaustauschprogramms IJP in der taz.