Jospins großer Bluff

Die Einführung der 35-Stunden-Woche sollte die große gesellschaftliche Reform der französischen Regierung werden. Doch zufrieden ist niemand

aus Paris DOROTHEA HAHN

Haben mehr als 20 Millionen Franzosen jahrzehntelang auf der Arbeit untätig herumgesessen, während ihre Patrons tatenlos zuschauten? Oder woran liegt es, dass die Verringerung ihrer Arbeitszeit um 10 Prozent nicht die rechnerisch zu erwartenden 2 Millionen neuen Arbeitsplätze, sondern nur deren 400.000 gebracht hat? Und auch das nur nach den optimistischen Zahlen aus der Sozialistischen Partei (PS). Während rechte wie linke Arbeitssoziologen, Arbeitgeber und Gewerkschaften vermuten, dass die 35-Stunden-Woche nur 120.000 bis 200.000 neue Arbeitsplätze gebracht hat.

Die „Réduction du Temps de Travail“ war die große gesellschaftliche Reform von Lionel Jospin. Mit der 35-Stunden-Woche sofort und der 32-Stunden-Woche noch vor Abschluss der Legislaturperiode wollte er die Arbeitslosigkeit bekämpfen. Das alles ohne Lohnverluste. So stand es in dem gemeinsamen Papier, mit dem PS und Grüne im Frühling 1997 in die Parlamentswahlen zogen. Frankreich verzeichnete damals mehr als 12 Prozent Arbeitslosigkeit und eine der höchsten Jugendarbeitslosenquoten von ganz EU-Europa.

Die RTT, wie die 35-Stunden-Woche auf Neufranzösisch heißt, zog in den Alltag ein. Seit dem 1. Januar ist sie für fast alle Beschäftigten verbindlich. Die meisten arbeiten zwar immer noch mindestens 40 Stunden die Woche, doch verfügen sie über zusätzliche freie Tage als Ausgleich. Aufs Jahr umgerechnet haben die Franzosen jetzt 36 Freitage – sie sind damit im europäischen Durchschnitt angekommen.

Zufrieden mit der Reform ist dennoch fast niemand. Die Patrons, die milliardenschwere Subventionen für die RTT erhalten haben, schimpfen über den „staatlichen Dirigismus“, der ihnen „höhere Produktionskosten“ sowie „Wettbewerbsnachteile“ verschaffe. Und auch die Beschäftigten, die von der Reform Arbeitsplätze für ihre Kinder und mehr Lebensqualität für alle erwartet hatten, klagen: über sinkende Reallöhne, über zusätzliche Arbeitsintensität und darüber, dass sie ihr Privatleben heute mehr denn je der Arbeit unterordnen müssen.

Das sind keine unerwünschten Nebeneffekte, sondern direkte Resultate der beiden Gesetze zur Arbeitszeitverkürzung. Statt wie bisher eine verbindliche Wochenarbeitszeit, legen sie nur noch eine „Jahresarbeitszeit“ fest. Und die kann je nach betrieblichem Bedarf organisiert werden. Mal müssen die Beschäftigten bis zu 13 Stunden am Tag arbeiten, mal nur 20 Stunden die Woche. Hauptsache, über das Jahr umgerechnet kommen 1.600 Arbeitsstunden zusammen. Ganz „nebenbei“ fallen dabei zusätzliche Einnahmequellen wie Überstunden- und Wochenendzuschläge weg.

Die rot-rosa-grüne Regierung schuf nur „Rahmengesetze“. Die konkreten Ausführungsbestimmungen der RTT überließ sie Verhandlungen auf Branchen- und Betriebsebene. Damit schickte sie Patrons und Gewerkschaften in eine Löwengrube, in der allein das Gesetz des Stärkeren zählt. „Da, wo die Gewerkschaften stark und die Belegschaften kampfbereit sind, gibt es heute gute RTT-Abkommen“, sagt Arbeitsinspektor Gérard Filoche. Für den PSler vom linken Flügel und Mitglied des Parteivorstands hat die RTT in immerhin „einem von drei Betrieben“ zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen und die alten Arbeitsplätze qualitativ verbessert.

Gewerkschafter, die an RTT-Verhandlungen beteiligt waren, sind noch pessimistischer. Jean-Luc Bindel, Führungsmitglied der CGT „Ernährung und Landwirtschaft“, sagt: „Für die Beschäftigten bringt die RTT keine Vorteile. Sie hat keine neuen Arbeitsplätze geschaffen. Die Leute leben heute für die Arbeit, statt umgekehrt. Und zahlreiche soziale Errungenschaften in den Betrieben sowie ganze Tarifverträge sind gekippt worden.“

De facto haben viele in Frankreich kaum Zeit hinzugewonnen. Für zigtausende Arbeiter in der Industrie sind die Umziehzeiten, die früher bezahlt waren, aus der Arbeitszeit ausgegliedert worden. Für hunderttausende Beschäftigte sämtlicher Branchen ist berufliche Fortbildung wieder zur Privatsache geworden.

Und die Verkäuferinnen der großen Einkaufszentren müssen heute ihre zuvor vom Patron bezahlten Frühstücks- und Pipipausen wieder von ihrer Freizeit abrechnen. Die Umorganisation ihrer Arbeitszeit – inklusive unbezahlter Zwangspausen während der einkaufsschwachen Stunden am Tag – bringt es mit sich, dass sie heute längere Zeit von ihren Wohnungen und Kindern in den Vorstädten entfernt sind als früher.

Die RTT drückt auch die Löhne. Vor allem die niedrigsten. Denn erstmals gibt es jetzt zwei unterschiedliche SMICs (gesetzlicher Mindestlohn). Nur Beschäftigte, die schon vor dem Zustandekommen eines RTT-Abkommens in einem Betrieb waren, bekommen weiterhin einen SMIC für 40 Wochenstunden (1.127 Euro monatlich). Doch wer neu eingestellt wird, erhält für dieselbe Arbeit nur noch den Lohn für 35 Stunden. Die neue Generation der „Smicards“ verdient dadurch 115 Euro weniger im Monat. Die rund drei Millionen „Smicards“ bezahlen den höchsten Preis für die RTT.

Der Staat, der die RTT eingeführt hat, geht als Arbeitgeber mit schlechtem Beispiel voran. So musste das Personal von Krankenhäusern und Museen erst wochenlang streiken, um wenigstens die Schaffung einiger Arbeitsplätze durchzusetzen.

Fünf Jahre nach dem Beginn der großen Reform erweist sich die RTT heute vor allem als großer Bluff. Dieselbe Arbeit muss mit weniger Personal in kürzerer Zeit und zu sinkenden Löhnen erledigt werden. Gleichzeitig gehen die Arbeitslosenzahlen seit zehn Monaten wieder in die Höhe. Kein Wunder, dass Präsidentschaftskandidat Jospin im gegenwärtigen Wahlkampf kaum noch von der 35-Stunden-Woche spricht.