Der zornige Frieden der Hisbullah

aus Baalbek JULIA GERLACH

Der kleine Hussein schreit wie am Spieß. Seine Mutter versucht ihn zu beruhigen, schaukelt ihn auf den Armen, umwickelt ihn mit ihrem Tschador. An der Wand hängt ein Poster. Grausame Aufnahmen von blutenden Kindern, weinenden Frauen, schießenden israelischen Soldaten. „Unterstützt die Intifada!“ steht darunter.

Hussein schreit noch mehr. „Ja, ja, da kann man schon zornig werden“, sagt ein Arzt, sein Blick streift das Plakat. Dann kümmert er sich um den kleinen Jungen: „Jetzt ist aber gut. Sei ein Mann!“, fordert er ihn auf und schaut sich die Verletzung an. Hussein hat sich an heißem Teewasser verbrüht, seine Mutter ist mit ihm ins Krankenhaus gefahren. In die „Märtyrer-Faraj-Ballouk-Krankenstation“. Eine Einrichtung der Hisbullah in Baalbek.

Die Hisbullah ist wichtig in der Stadt mit gut 10.000 Einwohnern im Bekaa-Tal. Überall wehen die Fahnen der libanesischen Befreiungstruppe. Oder doch die Fahnen der islamischen Terrororganisation? Eine Frage des Blickwinkels. Ein überdimensioniertes Poster des iranischen Revolutionsführers Chomeini schmückt die zentrale Verkehrsinsel. Es weist darauf hin, woher Geld und Gedankengut der Hisbullah stammen. An Laternenpfählen wechseln sich weich gezeichnete Porträts des Hisbullahchefs Nasrallah mit Bildern von Märtyrern ab: Sie starben im Kampf gegen die Israelis, die den Libanon bis vor zwei Jahren besetzt hielten.

„Ohne die Hisbullah geht hier in Baalbek gar nichts“, sagt Imat Itawi. Die 30-Jährige ist Mitglied der Frauensektion der Hisbullah, und sie hat den Auftrag, der Besucherin aus Deutschland die sozialen Einrichtungen der Organisation zu zeigen. Sie wickelt ihren Tschador fest um sich. Es pfeift ein eisiger Wind durch die Straßen. Wirtschaftskrise. Perspektivlosigkeit. Armut.

Hisbullah-Klinik, Hisbullah-Schule

„Der Staat macht hier eigentlich gar nichts mehr, und die soziale Situation hat sich in den letzten Jahren massiv verschlechtert“, bestätigt auch Hussein Abou Zaysan. Der Leiter der „Märtyrer-Faraj-Ballouk-Krankenstation“ trägt eine schwarze Lederjacke über dem Arztkittel, wippt lässig auf seinem Bürostuhl. „Ohne uns gäbe es hier nur eine schlechte Staatsschule, in die niemand freiwillig seine Kinder schicken möchte, und ein miserables Krankenhaus.“

Imat Itawi drängelt. Es gibt viel zu sehen. Eigentlich wollte sie das Büro des „Dschihad des Aufbaus“ zeigen, aber der Vorsitzende dieser Hisbullah-Agrarorganisation ist nicht erreichbar. Die Landwirtschaft ist einer der Bereiche, in der in der fruchtbaren Bekaa-Ebene neuerdings wieder Geld zu verdienen ist. Seit diesem Jahr wird im großen Stil Schlafmohn und Marihuana angebaut.

Stattdessen arrangiert Imat Itawi ein Treffen im Büro des Sozialbeauftragten der Hisbullah. „Vom Gemüseanbau zu leben, das ist für die Bauern sehr schwierig“, sagt Haider Osman, der sich um die Sorgen der Ärmsten in der Gemeinde kümmert. „Es hat da dieses UN-Projekt gegeben. Sie gaben unseren Bauern Geld, damit sie statt Drogen Obst anbauen, aber das Geld hat nicht gereicht“, erklärt ein Mann, der sich als Hussein der Polizist vorstellt. Immer mehr Nachbarn und Freunde, Männer jeden Alters, kommen in den kleinen Laden in der Innenstadt von Baalbek. Sie nehmen Platz auf den gepolsterten Stühlen vor der Moschee-von-Mekka-Tapete. Für sie ist der Drogenanbau ein Zeichen der sozialen Misere, und mit der kennen sie sich aus. Obwohl Drogenanbau doch eigentlich keine gute Tätigkeit für Muslime ist. Die Männer wiegen die Köpfe. „Das stimmt, aber Hungern ist auch keine Tätigkeit für gute Muslime“, kontert Hussein, der Polizist.

Nächste Station: Ein Jugendzentrum. Junge Männer pinseln Transparente. Aufforderungen zum Widerstand. Weiß auf schwarzem Stoff. Es hat in letzter Zeit allen Grund zum Demonstrieren gegeben. „Unsere Jungen würden sofort nach Palästina gehen, um die Brüder im Kampf zu unterstützen“, sagt Hussein Abd al-Magd, der Leiter des Jugendzentrums. Doch bisher gehen sie nicht – zumindest nicht offiziell. Zwar droht Scheich Nasrallah inzwischen offen damit, eine zweite Front gegen Israel von Norden her zu eröffnen. Auch sind Kämpfer der Hisbullah nach israelischen Angaben für einen Anschlag verantwortlich, bei dem kürzlich sechs Israelis in der Nähe der libanesisch-israelischen Grenze starben.

Sie provozieren immer wieder

Aber bisher, so stellt Abdallah Kassir klar, der für die Hisbullah im Parlament in Beirut sitzt, bleibt die Miliz bei ihrer Linie: Sie ist eine libanesische Organisation, die sich nur auf den Widerstand im Libanon konzentriert. Nur: Dort ist der bewaffnete Kampf eigentlich zu Ende. Im Mai 2000 zogen sich die israelischen Truppen nach 22 Jahren Besatzung aus dem Südlibanon zurück. Die Hisbullah wurde gefeiert. Ihre Aktionen hatten zum Abzug geführt.

Kaum war der Jubel verklungen, wurden Stimmen laut, die forderten, die Hisbullah aufzulösen oder zumindest zu entwaffnen: „Die provozieren die Israelis immer wieder und bringen uns damit alle in Gefahr“, sagt Jibran Tueni, Chefredakteur der liberalen libanesischen Zeitung Annahar. Nach dem 11. September setzten die USA die Hisbullah auf ihre Liste der Terrororganisationen und forderten die libanesische Regierung auf, deren Konten einzufrieren und Aktivitäten zu unterbinden. Dazu konnte sich die libanesische Regierung jedoch nicht durchringen. Solange die Hisbullah ihre Aktivitäten auf libanesisches Gebiet beschränkt – so lautet der inoffizielle Kompromiss –, unternimmt der Staat nichts gegen sie, denn die Hisbullah ist eben nicht nur eine bewaffnete Truppe. Ihre Vertreter sitzen auch im Parlament, und ihre sozialen Einrichtungen helfen den Libanesen im Alltag. Indem sie die Reichen daran erinnern, dass es ihre religiösen Pflicht ist, einen Teil ihres Reichtums den Armen zu geben, helfen sie, den sozialen Frieden zu sichern. Denn der Libanon, das sind Reichtum und Armut direkt nebeneinander.

Das zeigt sich besonders in der Hauptstadt Beirut: Im Zentrum, wo der Bürgerkrieg kaum einen Stein auf dem anderen gelassen hat, ist ein neues Viertel entstanden: geschmackvolle Sandsteinhäuser, fein gepflasterte Fußgängerwege, schicke Bars. Ein Bier kostet hier schon mal sechs Euro. Eine Straße weiter östlich ist das Gegenteil zu sehen: Matschige Pfade führen zwischen verfallenen Häusern hindurch. Auch hier flattern die Fahnen der Hisbullah. Diese drückten aber keinen sozialen Protest aus, sagt der Hisbullah-Abgeordnete Abdallah Kassir. „Der Kampf der Libanesen richtet sich gegen den äußeren Feind, gegen Israel, und außerdem: Dass sich die Armen von den Reichen etwas mit Gewalt nehmen, ist in unserer Religion nicht vorgesehen.“

Davon, dass die Hisbullah ihren bewaffneten Kampf aufgeben und eine soziale und politische Organisation werden könnte, will er nichts wissen. „Die Gefahr ist noch nicht gebannt: Solange Israel nicht besiegt ist und Frieden herrscht, müssen wir gerüstet sein und den Kampf der Palästinenser unterstützen. Sonst besetzen die Zionisten womöglich noch mal das Land“, sagt der Abgeordnete. Ob allerdings die Gerüchte stimmen, dass es in der Nähe von Baalbek Trainingslager geben soll, in denen Kämpfer für die Intifada ausgebildet werden, zu solchen Details mag sich der Politiker nicht äußern. Auch in Baalbek ist dazu nichts zu erfahren.

„Für die militärische Ausbildung ist eine andere Abteilung zuständig“, blockt Hussein Abd al-Magd ab. Er sitzt hinterm Schreibtisch, die Tür des Büros steht offen, der Geruch der Farbe, mit der die Jugendlichen ihre Transparente bemalen, zieht herein. Er wolle den Jugendlichen ein Ziel im Leben geben, sagt er. „Und dann vermitteln wir ihnen natürlich auch, was wirklich Ziele sind“, er macht eine Pause. „Das Ziel ist es, den Feind zu besiegen. Für immer.“ Vor ihm liegen Zeitungen: Sie berichten vom saudischen Friedensplan. „Verhandlungen sind gut, aber ob sie etwas bringen? Bewaffneter Widerstand – das wissen wir –, der bringt auf jeden Fall was!“