Bretter, die den Staat bedeuten

Auf dem Parkett des Bundesrats ist am Freitag Theater gespielt worden, Staatstheater. Völlig zu Recht. Nur die Inszenierung war nicht immer stimmig

von CHRISTIAN SEMLER

Peter Müller, Ministerpräsident des Saarlandes, hätte sich für seine Auskünfte zur CDU-Begleitmusik der letzten Bundesratssitzung keinen passenderen Ort aussuchen können als eben – das Saarbrücker Staatstheater. Die Empörung über Wowereits Entscheidung, die Stimmen des Landes Brandenburg einheitlich mit Ja zu werten, war nach Müllers Wort zwar verabredet, aber legitim. In der Nacht vor der Sitzung, als Wowereits Taktik den christlichen Landesfürsten bekannt wurde, habe „ehrliche Empörung“ geherrscht. Aber die hat sich „in einem kleinen Zimmerchen der großen Parteizentrale abgespielt – da war kein Journalist dabei“. Also musste die Empörung vor großem Fernsehpublikum nachgespielt werden.

Jetzt herrscht fast durchgehend Empörung oder zumindest Irritation beim Publikum, denn wir sind um ein Schauspiel der Spontaneität gebracht worden, einen raren Augenblick, wo Millionen Zuschauer endlich erleben, wie der Gefühlsstau der Politiker durchbrochen wird und die Emotionen sich freie Bahn schaffen. Wieder nichts!

Dennoch hat Müller mit seinem Bekenntnis im Staatstheater Recht. Was ist Empörung wert, wenn sie sich nicht mitteilen kann, wenn sie ihren Adressaten verfehlt? Empörung ist ein Mittel im gesellschaftlichen Verkehr, im Interaktionsprozess, um es mit dem amerikanischen Soziologen Erving Goffman zu sagen. Nicht umsonst gab der seinem bahnbrechennden Werk zur Rollentheorie den Titel „Wir spielen alle Theater“. Ständig bewegen wir uns, sei’s im privaten Umgang, sei’s in Gesellschaft, auf der Bühne, geben unseren Part, versuchen unserem Gegenüber ein bestimmtes Bild unserer werten Person zu suggerieren, mal poltern wir, mal üben wir uns in chinesischer Höflichkeit, mal sind wir steif-zeremoniell, mal lassen wir die Zügel schießen. Dann sind wir überwältigt von unseren kalkulierten Leidenschaften. Und stellen sie abschließend wieder ab.

Nur von unseren Politikern verlangen wir – wenigstens dann und wann – die wirkliche, die echte Empörung. Das hängt mit dem grassierenden Authentizitätswahn zusammen, dessen tragende Säule die Glaubwürdigkeit ist. Seine Rede mag inkohärent sein, seine Vorschläge mögen weder Hand noch Fuß haben: Hauptsache, der Politiker ist glaubwürdig.

War Willy Brandts Kniefall vor dem Warschauer-Ghetto-Denkmal etwa nicht im Vorhinein kalkuliert? Und verliert diese Geste im Nachhinein etwas von ihrem zwingenden symbolischen Ausdruck, war sie etwa nicht glaubwürdig? Der Maßstab, den wir an das Rollenverhalten der CDU-Politiker im Bundesratsstück anlegen müssen, lautert schlicht: War es gutes oder schlechtes Theater? Diese Elle angelegt, ist allerdings Kritik am CDU-Auftritt vonnöten.

Untersuchen wir die Rolle des empörten Koch, so kann immerhin konzediert werden, dass seine Zwischenrufe dem dramaturgischen Prinzip der Steigerung gehorchen. Zuerst: „Nein, das geht nicht!“, über „Das ist ja unglaublich, das ist glatter Rechtsbruch!“, über: „Das ist ja wohl das Letzte!“, hin zu: „Sie manipulieren die Entscheidung des Bundesrats. Was fällt Ihnen ein!“ Untermalt wird dieses Crescendo vom CDU-Chor, der schließlich in den Donnerruf „Verfassungsbrecher!“ mündet … Man beachte die Schleife von der Konstatierung des Sachverhalts hin zur Dingfestmachung des Täters. Nicht schlecht, aber Kochs Text, obwohl er aus musikalischen Gründen redundant sein muss, ist doch emotional allzu ärmlich. Nichts bleibt beim Hörer hängen.

Noch schlechter ist es um die Gestik Kochs bestellt. Er schlägt mit der Hand aufs Pult. Otto Schily, ein ästhetischer Feingeist, hat dies sogleich bemängelt. Nur schwach kaschiert mit der Sorge um die Würde des hohen Hauses Bundesrat, erinnerte er an den machtvollen Auftritt Nikita Chruschtschows vor der Generalversammlung der UNO, an den aufs Pult niedersausenden genagelten Schuh, der über die Generationen hinweg im Gedächtnis geblieben ist. Wobei völlig unerheblich bleibt, dass der ukrainische Bauernsohn diese Geste dem italienischen Intellektuellen und KP-Chef Palmiro Togliatti abgeguckt hatte.

Der Hahnenkampf auf Bali, schreibt der Anthropologe Clifford Geertz in seinem Werk „Dichte Beschreibung“, „ist in seiner Darstellung vor einer gesellschaftlichen Kulisse zugleich ein konvulsivisches Aufwallen tierischen Hasses, ein Scheinkrieg symbolischer Gestalten und eine formalisierte Simulation von Statusspannungen“. Wie weit war Berlin von Bali entfernt!