In Blitzlichtgewittern

Am Karfreitag wäre Ernst Jünger 107 Jahre alt geworden. Im Jubeljahr seines 100. Geburtstags wurde der Alt-Schriftsteller von einem seltsamen Klatschknipser verfolgt

Der blatternnarbige Weißschopf sah aus wie ein später Andy Warhol aus Oberammergau

Stuttgart, 1995. Mit tränendem Auge betrat ich die kleine Buchhandlung, in der ein Freund arbeitete. Vor dem Laden hatte mir ein Greis einen Schwall Zigarettenrauch ins Gesicht gepustet. Aufgeregt stürmte mir mein Bekannter entgegen: „Hast du ihn gesehen? Er ist gerade raus! Du musst ihn gesehen haben! Ich habe ein Autogramm!“ Ich besah das vorgewiesene Füllfedergekrakel. „Wen gesehen?“ Er antwortete indigniert: „Mann, das war Ernst Jünger!“

Ich tatschte auf das Autogramm und stellte fest, dass die Tinte leider noch feucht war. Den fluchenden Autogrammjäger zurücklassend, stürzte ich trotz schweren Taschengepäcks nach draußen. Eine kleine improvisierte Fotoserie schwebte mir vor – damit wäre in Jüngers Jubeljahr sicher gut Geld zu machen. Jede Gazette rückte den hundertjährigen Gewitterer ins Rampenlicht, und bei schwerreichen Kriegsfanatikern waren seine Bücher Verehrungsobjekte. Draußen die bange Frage: welche Richtung?

Doch da gab es keinen Zweifel – für Jünger kam nur rechts in Frage. Ich paddelte mit den Ellenbogen im Strudel der Passanten. Nicht lange, dann hatte ich ihn! Er trug ein schäbiges braunkariertes Sakko, blaues Hemd und weißes Halstuch, eine dunkelbraune Hose und widerliche graue Sportschuhe. Das verrunzelte, blatternnarbige Gesicht und der schlohweiße Kopfbewuchs ließen keinen Zweifel zu. Auch sprach der Greisentango seiner Schritte eine klare Sprache. Die Begleiterin war dagegen blond, im Stil der Dreißigerjahre gekleidet und blutjung.

Das Schneckentempo des Hundertjährigen erlaubte es, zum Kauf einer Wegwerfkamera in ein Fotogeschäft zu stürzen. Sogar einen Blitz hatte das Ding. Zurück auf der Straße fürchtete ich, ihn verloren zu haben, aber da strahlte der weiße Schopf wie ein Leuchtfeuer in der Menge. Ich näherte mich ihm vorsichtig für eine Belegaufnahme und ging wieder auf Abstand. Er sah aus wie ein später Andy Warhol aus Oberammergau.

Die nächsten Stunden wurden nicht leicht. Mit meiner safrangelben Motorradlederkluft war ich viel zu warm und zu auffällig für Beschattungen angezogen. Dennoch schleppte ich mich hinter dem munter entschwebenden Greis und seinem Groupie dahin, ab und an zückte ich die Kamera. Ein Waffenladen wurde besucht, ein Zoogeschäft und ein Niedrigpreismarkt. Hier passierte mir das Missgeschick, Jünger beim Stöbern in allerlei Plastikmonstrositäten mit dem Blitz direkt vor seinem Gesicht zu blenden. Ich nutzte den Moment völliger Schneeblindheit, um zu entkommen.

Bei der zweistündigen Sitzung in einem Burger King, in deren Verlauf er nur ganze zwei Mal eine Zigarette ins Silbermundstück schraubte, war ans Fotografieren nicht zu denken. Ich hielt am Nebentisch eine gefundene Tageszeitung vor mich, bemüht im TexMex-Dunst nicht zu sterben. Jüngers abstruse Unterhaltung mit seiner minderjährigen Anhängerin über Käfer, Schmetterlinge und mexikanische Rauschpilze drang kaum an mein Ohr. Über den Marktplatz verfolgte ich sie zuletzt noch und fotografierte, wie sie sich gegenseitig beim Probieren abscheulicher Billigsonnenbrillen fotografierten. Als sie in die U-Bahn abtauchten, ließ ich sie ziehen. Der Film war verknipst.

Tage später betrachtete mein Bekannter schmunzelnd die entwickelten Bilder. „Mann Gottes – wer soll denn das sein? Er sieht ein bisschen aus wie Johannes Heesters mit 150. Aber Jünger? Nie im Leben! Am Nachmittag, als du hier warst, hat der Jubilar übrigens live im Südwestfunk gesprochen. Da hast du vielleicht was verpasst.“ Er konnte sich nicht beruhigen über meinen Fauxpas: „Jünger und eine blonde Sechzehnjährige? Im Ramschcenter? Beim Hamburger? Junge, das ist doch nicht dein Ernst?“

Ich floh vor seinem Lachen und ließ die dummen Fotos beschämt zurück. Wildfremde, belanglose Menschen hatte ich verfolgt und bei ihrem nutzlosen Tun abgelichtet! Einen Zwanziger für die Kamera in den Wind geschossen, Stunden meines Lebens verprasst. Dabei war ich mir so sicher gewesen und bin es eigentlich heute noch. Die Sache mit dem Südwestfunk hab’ ich freilich nie nachgeprüft. Der einstige Freund hat seinen Job ziemlich bald an den Nagel gehängt. Beneidenswerterweise war er damals überraschend zu einer respektablen Summe Geldes gekommen. TOM WOLF