Zu viele Buchstaben für Boris Becker

Das Literaturarchiv Gutenberg-DE hat keinen Platz mehr bei AOL: Eine „rein firmenpolitische Entscheidung“

Schier endlos viel Literatur hielt die Adresse www.gutenberg.aol.de bisher bereit: Werke von über tausend Autoren, vom griechischen Tragödiendichter Aischylos bis zum französischen Naturalisten Émile Zola – rund 250.000 in HTML umgeformte Buchseiten insgesamt, und alle kostenlos zum Runterladen.

1994 hatte der Hamburger Gunter Hille, damals noch an der Universität Hamburg beschäftigt, damit begonnen, urheberrechtsfreie Werke zu digitalisieren und dann ins Netz zu stellen. Den Anfang machte er mit Wilhelm Buschs „Max und Moritz“. Nach und nach entstand so eines der größten Literaturarchive der Welt. Ebenso rasant wie der Umfang des Lesestoffs wuchsen auch die Nutzerzahlen. Im Januar zählte man als Spitzenwert täglich 30.000 Besucher.

Froh war Hille, der inzwischen die Firma Hille & Partner abc.de Internet-Dienste gegründet hatte, als 1997 AOL als Sponsor einstieg und finanzielle und technische Unterstützung leistete. Doch seit dem 12. März bleibt der Zugang zu dem Archiv verwehrt: „Der Sponsor AOL hat das Projekt aus technischen Gründen“ vom Netz genommen, heißt es auf der Website. Diese Aussage erzürnt den Sprecher von AOL Deutschland, Jens Nordlohne: „Wir haben Gutenberg-DE im Juni 2001 fristgerecht den Vermarktungsvertrag gekündigt. Die Betreiber hatten also lange genug Zeit, sich neue Sponsoren und Hosting-Möglichkeiten zu suchen. Wir haben das Projekt monatelang aus Goodwill weiterlaufen lassen.“

So ausschließlich gut erschien der Wille des mit 33 Millionen Mitgliedern größten Onlineservices der Welt Gunter Hille denn doch nicht: „Wir haben nie eine schriftliche Kündigung für das Hosting erhalten. Am 28. Februar teilte uns AOL telefonisch mit, dass man den dafür bereitgestellten Rechner nun brauche. Dem Anrufer war das sehr peinlich.“ Hille erhielt eine Gnadenfrist von 14 Tagen. Innerhalb dieser Zeit konnte freilich kein neuer Sponsor akquiriert werden, das Angebot musste wohl oder übel offline bleiben.

„Ich finde Gutenberg-DE supergut, unsere Entscheidung, es nicht weiter zu unterstützen ist rein firmenpolitischer Natur. Wir haben das Projekt so weit vorangetrieben, dass es auf eigenen Füßen stehen kann“, versucht Nordlohne den AOL-Ausstieg zu rechtfertigen. Keinen superguten Eindruck hinterließ diese Firmenpolitik bei den Internetnutzern. Tausende Solidaritäts-E-Mails gingen bei Gutenberg-DE ein. In Anspielung auf die neue AOL-Werbekampagne mit Boris Becker heißt es beispielsweise: „Bin schon drin, aber was sollen die vielen Buchstaben hier?“ Der AOL-Sprecher hält solche Kritik für abwegig: „Wir haben das Angebot in keiner Weise in Frage gestellt, außerdem unterstützen wir weiterhin kulturelle und soziale Projekte.“

Bücher gehören wohl nicht dazu. Aber Helle kann die Onlineleser beruhigen: „Wir sind in aussichtsreichen Verhandlungen mit einem großen Hamburger Medienunternehmen“. Ab der zweiten Aprilwoche solle das Literaturarchiv unter www.gutenberg2000.de wieder online zugänglich sein.

THOMAS MRAZEK

mrazek@gmx.de