New Age Krautrock Awards

Elektronische Musik? Tangerine Dream, Shamall? Spielt heute kein Radiosender mehr. Und trotzdem pilgern die Fans Jahr für Jahr zur Vergabe der „Schwingungen“-Preise

von KARL HÜBNER

Natürlich ist Duisburg nicht Los Angeles. Und Tom Séché ist ebenso wenig Alicia Keys wie Ron Boots etwas mit Bono gemeinsam hat. Da ist es kein Wunder, wenn an diesem Samstag Anfang März kein Fernsehsender Notiz davon nimmt, wie Winfrid Trenkler die „Schwingungen“-Preise für das vergangene Jahr vergibt. Statt Millionen an den Bildschirmen sind es knapp zweihundert Menschen, die sich im Technologiezentrum Duisburg, wegen seiner Architektur „Rundling“ genannt, eingefunden haben, um das zu verfolgen, was vom Plot her einer Grammyvergabe für die Sparte Elektronische Musik durchaus gleichkommt.

Mit Winfrid Trenkler, dem „godfather of Radio-DJ“, wie ihn manche Besucher mit verklärten Augen nennen, sind viele im Saal aufgewachsen. Mit „Pro Pop Music Shop“, „Rock In“, „Radiothek“ und natürlich „Schwingungen“ hat er über 25 Jahre lang Musikgeschmäcke im WDR-Sendegebiet geprägt und sich dabei immer mehr der EM zugewandt, der Elektronischen Musik. Doch 1995 war plötzlich Schluss. „Schwingungen“ und damit Trenkler fielen einer WDR-Programmreform zum Opfer.

Doch keineswegs hat es sich damit ausgeschwungen. Durch die Fangemeinde ging ein Aufschrei. Die Proteststürme aus dem Hörerkreis brachten zwar den WDR nicht zum Einlenken, zeigten aber Trenkler ein Potenzial, auf das er kurzerhand ein völlig neues Projekt gründete: Radio auf CD. Statt einmal wöchentlich über den Äther erreicht „Schwingungen“ seine Hörer seither einmal im Monat per Postbote. Der bringt dann eine CD, auf der Trenkler 74 Minuten lang neue Titel aus der Szene vorstellt. Ein Konzept, das bereits ins achte Jahr geht.

Beibehalten hat Trenkler seither auch die alljährliche „Schwingungen“-Preisverleihung. Nach wie vor eine Ehrung nach demokratischem Prinzip: Jeweils zu Jahresbeginn bestimmen die „Schwingungen“-Hörer in vier Kategorien die Highlights aus dem Vorjahr: den besten Titel, die beste CD, den besten Künstler und den besten Neuling. Inzwischen fand die Ehrung der Preisträger zum vierten Mal im Duisburger Rundling statt: eine Veranstaltung, deren Existenz beachtlich genug ist. Immerhin wird hier einer Musik gehuldigt, die fast keine mediale Verbreitung mehr findet.

Zwar ist es längst üblich, in Werbung, Film oder im Bordprogramm der Fluggesellschaften synthetisch erzeugte – eben elektronische – Musik einzusetzen, aber die CDs, auf denen die Künstler solche Klänge verewigen, finden kaum den Weg zum breiten Publikum. Bis auf wenige Ausnahmen sind ihre Alben selbst in gut sortierten Plattenläden nicht zu finden, MTV lässt seine Stammkunden in dieser Hinsicht ahnungslos, und auch exzessive Radiohörer erfahren auf kaum einer Frequenz etwas über Rainbow Serpent, Hemisphere, Pyramid Peak oder Shamall.

Und dennoch: Eine Gruppe von Zeitgenossen hat genau diese Musik regelmäßig in ihrem CD-Player liegen. Leute, wie sie an diesem Samstag nach Duisburg gekommen sind – von Berlin bis Holland, von Oldenburg bis Siegburg, wie die Autokennzeichen vor dem Rundling ausweisen. Menschen, die so normal erscheinen, dass man sie in dieser Konstellation auch auf Gleis zwei des Kölner Hauptbahnhofs antreffen könnte. Viel schütteres Haar, wenig Kultgehabe. Das in anderen musikalischen Genres extrovertiert gelebte Bekenntnis zum Objekt der Verehrung ist den meisten EM-Fans schlicht fremd.

Im Rundling wird es still. Alle Stühle sind belegt, Diashow und Musik brechen ab, als Winfrid Trenkler im weinroten Sakko ans Mikrofon tritt. Verlesen wird ab Platz zehn in jeder Kategorie, geklatscht ab Platz drei. Die jeweils Ersten bekommen neben der Urkunde eine Trophäe. Die „Elektronik-Grammys“ stammen in diesem Jahr von Klaus Schröder aus Gladbeck: fünfzackige Sterne aus Stein auf einem Holzfuß. Kein Sponsor, kein Gold, kein Blitzlichtgewitter, dafür jede Menge aufrichtiger Applaus.

Dass elektronische Klangerzeugung kein steriles Science-Fiction-Getue weltfremder Einzelgänger ist, zeigen die Fälle, wo szeneübergreifend größere Bevölkerungsgruppen erreicht werden. Etwa, als der Boxer Henry Maske sich Vangelis’ „Conquest of Paradise“ zu seiner Hymne auserkor. Schon Jahre vorher hatten die „Schwingungen“-Hörer das zugehörige Album „1492“ in der jährlichen „Schwingungen“-Wahl zum zweitbesten des Jahres 1992 gewählt. „Zu vielen Gelegenheiten hören die Menschen elektronische Musik und wissen es gar nicht“, so Trenkler, für den sich 1970 „eine neue musikalische Tür geöffnet hatte“, als er bei der Einspielung der ersten Kraftwerk-LP mit im Studio war.

Für Richard Mayer aus Bad Honnef ist diese Tür durch einen Zufall aufgegangen. Eigentlich auf Orgel- und Chormusik festgelegt, hatte er sich bei der Suche nach seiner Musiksendung vor über 25 Jahren einmal im Wochentag vertan. Und so schallten plötzlich Tangerine Dream und Klaus Schulze durch Mayers Wohnzimmer. Fortan blendete sich der Bauzeichner regelmäßig ein, wenn Trenkler seine Gemeinde donnerstags um 22.05 Uhr aus dem Kölner WDR-Funkhaus begrüßte. Heute ist Mayer 72 und vermutlich der älteste Besucher in Duisburg.

In den Siebzigerjahren stieß auch Norbert Krüler in Emsdetten auf „Rock In“, den Vorläufer von „Schwingungen“. Einmal in der Woche vertrieb er seine Eltern aus dem Wohnzimmer und saß gebannt vor dem Radiolautsprecher – mit dem Mikrofon seines selbst erjobbten Kassettenrecorders zum Mitschneiden bereit. Noch heute weiß er, wie Trenkler ein Stück der Krautrockformation Lava spielte, aber ein bei Krülers vorbeifahrender Lkw die Aufnahme ruinierte. „Seither habe ich auf das Stück gewartet. Er hat es nie mehr gespielt.“ Immerhin hat Trenkler inzwischen Krüler selbst ins Programm genommen, denn der heutige Bremer ist längst Musiker und firmiert als Shamall. 2001 legte Shamall bereits sein zehntes Album vor: „The Book Genesis“.

In Duisburg steht Shamall in diesem Jahr ganz oben auf dem Treppchen – die „Schwingungen“-Gemeinde wählte seine „New Age Krautrock Symphony“ zum besten Stück des Jahres 2001. Krüler, der sich ganz klar als „von Can, Pink Floyd, Camel und Caravan beeinflusst“ sieht, bedankt sich artig und freut sich, dass „noch so viele von euch meine Message verstehen“.

Keiner der Preisträger, die in Duisburg nach vorne kommen, ist ein großer Redner oder gar eine charismatische Glamourfigur. Die Musik ist die Botschaft, nicht der Musiker selbst. Die Elektronikmusiker tragen Sweatshirts oder Jeansjacken, man könnte sie auch an der Pommesbude, im Antiquariat oder im Physikhörsaal antreffen. Verdammt sie genau das bei MTV und Viva zur Bedeutungslosigkeit, so ist es gerade diese unprätentiöse Normalität, die die „Schwingungen“-Hörer anspricht. Sylvia Sommerschmidt betont: „Das sind Musiker zum Anfassen.“

Die Bochumerin hatte erst jüngst wieder ihr ganz eigenes EM-Erlebnis. „Geradezu heilsam“ sei die Musik für sie gewesen, als sie nach einer Ohrenoperation im Krankenhaus lag. Sommerschmidt, eine der wenigen Frauen im Rundling, ist engagierte ehrenamtliche Kämpferin für die Verbreitung der EM. Im Bochumer Bürgerfunk sendet sie einmal in der Woche das „TraumKlang Radio“; daneben ist sie Gründungsmitglied von „Schallwende“, einem Verein von EM-Freunden, der sich in der Zeit formierte, als der WDR die Ampel für „Schwingungen“ auf rot stellte.

Vielleicht hat gerade dieses Aus im WDR den „Schwingungen“-Fans eine ganz neue Qualität des Miteinanders beschert. Die Preisverleihung, früher nur im Radio verlesen, heute ein kleines Event für zweihundert Leute, ist nur ein Beispiel. Vor drei Jahren hinzugekommen sind die Fahrten in nordische Landschaften – bis hinauf nach Lappland, wo für Organisator Winfrid Trenkler „der Einklang zwischen Musik und Landschaft“ am fühlbarsten wird. Zweimal traf man sich dabei auf einer schwedischen Insel – Livemusik inklusive. Die EuroSonic-Konzerte sollen spätestens 2003 wieder aufleben. Im vorigen Jahr fuhr der harte EuroSonic-Kern, diesmal ohne Konzert, durch den Norden Finnlands, dieses Jahr soll es nach Island gehen.

Vor zweieinhalb Jahren stiegen die EuroSonic-Touristen auch in einem Hotel im nordschwedischen Arjeplog ab. Dort baten sie das Hotelpersonal, im Gemeinschaftsraum ihre Musik abspielen zu dürfen: Tangerine Dream, Harald Großkopf und Kitaro. Und dann passierte es. Auch das Hotelpersonal horcht auf. So etwas hat es nie gehört. Synthetische Klänge mit solch magischer Intensität. Klänge, die durch die Ohren auf den Grund der Seele besonders einer Kellnerin dringen. Die Frau ist so fasziniert, dass sie bis weit nach Dienstschluss bei den Gästen bleibt. Servietten faltet, die um diese Zeit niemand mehr braucht. Nur um diese Musik zu hören. Bis um halb vier morgens. Dann hat „Schwingungen auf CD“ eine Kundin mehr. In solchen Momenten weiß Trenkler: Seine Arbeit lohnt sich.

Allerdings: Inzwischen muss der 59-Jährige aus gesundheitlichen Gründen kürzer treten. Schon hat er für die Redaktion von „Schwingungen auf CD“ im Szene-Insider Jörg Strawe eine Ablösung gefunden; Trenkler moderiert lediglich noch. Für viele Musiker bleibt „Schwingungen“ ein wichtiges Vehikel, überhaupt eine Plattform zu bekommen. Sie danken, indem sie ihre Beiträge lizenzfrei zur Verfügung stellen. Lediglich Gema-Gebühren fallen an.

Zur Preisvergabe in Duisburg gibt es auch einen Live-Auftritt – von der Band Elektronische Maschine aus Rotterdam. Vor dem zweiten Block der Preisvergabe spalten die Niederländer das Publikum allerdings in zwei Lager. Manchen ist der Elektrobeat zu heftig. Die Übergänge zur Electric Body Music werden hier fließend, und in der Tat kann man sich die Formation problemlos mit vorgeschalteter Tanzfläche denken. Richard Mayer aus Bad Honnef ist irritiert. Das hat nichts mit seinen Favoriten Tangerine Dream oder Ron Boots zu tun. Und auch sein Sohn winkt ab. Wer weiß, hätten die vielen Dreißig- bis Vierzigjährigen im Saal ihre Söhne dabei, vielleicht wäre der Sound gerade für diese etwas gewesen.

Längst gibt es Ausfransungen, die zu völlig eigenen elektronisch dominierten Genres geführt haben: Trance, Ambient oder House etwa – weswegen Jörg Strawe, der neue Redakteur, die in „Schwingungen“ verbreitete Musik auch als „klassische EM“ bezeichnet.

Am Ende der Preisverleihung, der Beifall für den Kölner Tom Séché, den besten Neuling 2001, ist gerade erst verebbt, kann sich Trenkler einen Seitenhieb gegen den WDR nicht länger verkneifen. Er kommt auf Herbert Grönemeyer zu sprechen. Dessen Londoner Plattenlabel Groenland hatte im vorigen Jahr die drei einzigen LPs der Siebziger-Jahre-Krautrock-Band NEU! erstmals als CD veröffentlicht und dafür – der Name Grönemeyer mag da geholfen haben – ein durchaus breites Medienecho gefunden. Trenkler wertet das als späte Bestätigung für seine Arbeit in den Siebzigern. Bereits da hatte er die Alben des Düsseldorfer Duos NEU! in seinen Sendungen „rauf- und runtergespielt“. Dass diese Art von Musik heute, dreißig Jahre später, wieder ein großes Echo erfährt, freut ihn – mag der WDR solchen Sounds auch seit sieben Jahren kein Forum mehr bieten.

„Schwingungen auf CD“ kostet im Abonnement 64 Euro für zwölf Ausgaben. Kontakt: „Schwingungen“, c/o Jörg Strawe, Kaller Straße 9, 53937 Schleiden, Fon (0 24 45) 51 21,Fax (0 24 45) 51 00, E-Mail: cue-strawe@t-online.deKarl Hübner, 37, lebt als freier Autor in Köln