Hamburgs Golgatha

Kreuzweg-Prozession zieht Parallelen zwischen der Passionsgeschichte und dem Schicksal von Flüchtlingen in Hamburg  ■ Von Heike Dierbach

Judas ging sogleich auf Jesus zu und küsste ihn. Da packten sie Jesus und nahmen ihn fest.

Die Polizisten begleiten den kleinen Zug über den Spielbudenplatz. Vor der Davidwache sammelt sich die Schar. Holzkreuze ragen in die Luft, jemand stimmt ein Lied an: Unter dem Motto „Es geschieht auch heute“ beginnen rund 50 Hamburg ChristInnen zum Karfreitag hier einen „Kreuzweg für die Rechte der Flüchtlinge“.

Eingeladen hat die diakonische Lebensgemeinschaft „Brot und Rosen“. Mitglied Ute Andresen erklärt, warum die Prozession an der Davidwache startet: „Polizisten sind das erste und oft das einzige Gegenüber, das Flüchtlinge hier haben.“ Sie erinnert an Achidi J., der im Dezember nach einem Brechmitteleinsatz im UKE starb. Nach einer Schweigeminute zieht die Schar weiter vor eine Flüchtlingsunterkunft auf den Hans-Albers-Platz.

Ein und dasselbe Gesetz soll gelten für den Einheimischen und für den Fremden, der unter euch wohnt.

Heidi Stölten vom Nordelbischen Frauenwerk erzählt von ihrem Besuch in einem Flüchtlingsheim in Eidelstedt: „Familien mit Kindern leben in einem Gebäude mit düsteren Gängen ohne Licht- und Luftzufuhr, auch in Kellerräumen.“ Weiter geht es hinunter zu den Landungsbrücken.

Sie warfen das Los und verteilten seine Kleider unter sich und gaben jedem, was ihm zufiel.

„Der ungerechte Welthandel ist eine zentrale Ursache für Armut“, erzählt Johannes Majorros-Steinmetz von Brot und Rosen. Diese wiederum treibe Menschen in die Flucht. Und wer es als „blinder Passagier“ nach Hamburg schafft, dem werde hier von der Polizei auch noch sein letztes Geld abgenommen. Nach einem kurzen Gebet mischt sich der Zug wieder mit dem Strom der Touristen. Vor dem Verlagsgebäude von Gruner+Jahr stoppt er erneut.

Die Soldaten aber legten Jesus einen Purpurmantel um und flochten eine Dornenkrone und setzen sie ihm auf; sie schlugen ihn mit einem Stock und spuckten ihn an.

„Journalisten nehmen fremdenfeindliche Stimmungen auf, indem sie dem geneigten Leser aus der Seele sprechen wollen“, sagt Hans-Joachim Burkhardt und zitiert aus Bild und Mopo: „Deutsche putzt bei Asylbewerbern“; „Super-Cop vom Hauptbahnhof fasst 100 Verbrecher – darunter 30 Illegale“. Gruner+Jahr habe man stellvertretend für die anderen Verlage gewählt: „Der Springer-Verlag liegt zu weit ab von der Route.“ Diese führt nun direkt zum Michel.

Und Jesus sah von weitem den Ort, der ihm bestimmt war: Golgatha. Lange konnte er sein Kreuz nicht schleppen. Deshalb hielten sie unterwegs einen Mann an. Der hieß Simon und war aus Kyrene.

Hamburgs Golgatha, sagt Chris-tel Seiler vom Arbeitskreis Kirchenasyl, „das sind die Wohnschiffe, die Berzeliusstraße“. Simon von Kyrene, das könne die Kirche sein. Die jedoch weigere sich, das Kreuz der Flüchtlinge mitzutragen und „klebt nur Pflaster auf die Wunden“.

Und um die neunte Stunde rief Jesus laut: Mein Gott, warum hast du mich verlassen?

Am Untersuchungsgefängnis Holstenglacis endet der Kreuzweg. Fanny Dethloff, Flüchtlingsbeauftragte der Nordelbischen Kirche, berichtet von einem Mann, der nach seiner Abschiebung aus Deutschland gefoltert wurde. Er floh erneut – jetzt sitzt er hier in Abschiebehaft. „Jesus ist ans Kreuz gegangen, damit wir keine solchen Opfer mehr brauchen“, schließt sie die Prozession, „und doch wiederholt sich die Geschichte der Kreuzigung tagtäglich“.