Das gastfreundliche Amt

Das Statistisches Landesamt wird am 1. April 150 Jahre alt. Streng objektiv werden im „Matterhorn“ Berge von Zahlen bewältigt. Kurz gesagt: Das Amt ist die Schweiz unter den Berliner Behörden. Die gröbste Arbeit eledigt der Belegleser

Seit 150 Jahren wird in Berlin gezählt. Es werden Tabellen erstellt, Ziffernstudien anlegt, Gegensätzlichkeiten in Kataloge zusammengefasst, Unterschiede umgerechnet in einen Bruchteil von Hundert. Für Unvergleichbares werden Verzeichnisse erstellt und für Vergleichbares Listen.

Das Statistische Landesamt feiert runden Geburtstag. Herzlichen Glückwunsch. Für ein Amt in der Bundesrepublik ist das ein gesegnetes Alter. Älter als das statistische Mittel der Dienststellen hierzulande allemal. Wer 150 ist, hat Bismarck und den Kaiser noch erlebt. Auch den glorreichen Sieg im deutsch-französischen Krieg. Dazu noch das ganze 20. Jahrhundert mit seiner Passion.

Statistisch gesehen wird allerdings alles zum Ist-Zustand: Die Sterblichkeit kommt in Prozent. Die Kanonenproduktion als Bruttosozialprodukt. Der Hunger wiederum lässt sich hinter verzehrten Kalorien verstecken. Nach so vielen Jahren als Amt aber gilt: Hauptsache dabei gewesen. Und zwar immer in Berlin. Immer mittenmang. Wenn auch nur als Fakt.

Die Idee, die allem zugrunde liegt, ist bekannt: Zahlen lügen nicht. Neutral sind sie. Nüchtern, objektiv, kalt. Sie sprechen für sich. Sie werden vorgelegt. Was damit gemacht wird, ist eine andere Sache. Es darf an dieser Stelle ruhig einmal gesagt werden: Das Statistische Landesamt ist die Schweiz unter den Berliner Behörden. Mit all ihren Vorteilen: Korrekt, analytisch, mit vielen Superlativen versehen und tendentiös nur in eigener Sache. Sie ist ideal für Prozente, Aktiv-Sport und Vereinsausflüge. Was liegt da näher, als den Jubilar zu besuchen?

Schon bei der Ankunft am S-Bahnhof Friedrichsfelde-Ost, unweit der Behörde, entfalten sich die Abgründe der Anti-Ebene. Steil geht es die Rhinstraße bergab. Das riesige Hochhausmassiv „Am Mühlberg“ verstellt den Blick. Wie eine tiefliegende Schlucht entfaltet sich rechts davon die von mehreren Verkehrsströmen gespeiste Kreuzung. In „Alt-Friedrichsfelde“ – so der Name einer der Straßen – soll das Amt liegen.

„Welche Nummer suchen Sie denn“, fragt eine rotwangige Frau. „Die 60“. „Ach, das Matterhorn. Der Klotz, der da so quer steht“. Die Frau zeigt nach links. „Sie meinen den braunen Dreißigmeter?“ „Ja, das Matterhorn“, wiederholt sie. Stolz auf Heimat gibt Selbstsicherheit. Wie nicht anders zu erwarten, geht die Auffahrt dorthin im Zickzack. Hinter dem Schlagbaum, der hier eine Drehtür ist, entfaltet sich die Lobby als gläserne Grotte.

Gisela Kröger, die Fremdenführerin der Amtsenklave, lädt vor der Besichtigung in ihr Büro. Nicht außergewöhnlich wirkt es auf den ersten Blick. Eine Schweiz ist gute Stube. So stehen hier also Schränke herum, Tische und ein Computer. Als Zeichen der Heimatverbundenheit hängt eine riesige Karte Berlins an der Wand. Zur besonderen Erbauung aber prangen auf der gegenüberliegenden Seite – als geschickt inszenierte Neutralität – die Porträts von Mao und Elvis.

„Ein echter Statistiker ist immer sozial engagiert“, erklärt die Fremdenführerin. Sie habe die Konterfeis extra für die Journalisten aufgehängt. Damit diese was zum Erzählen haben. Ein Manko nämlich ist offenkundig: Eine Schweiz macht keine Schlagzeilen. Wo Fakten sind, sind keine Geschichten.

Statistisch gesehen herrsche im Statistischen Landesamt Überalterung, erklärt die Fremdenführerin. In einer Wohlstandsgesellschaft nichts Neues und Jammern gehört zum Geschäft. Die Kürzungen des Senats lassen Neueinstellungen nicht zu. Ungemach droht, denn wie überall auf der Welt sind die Jungen beim Programmieren die Ersten. Für die Optimierung wird ihr Know-how gebraucht. Nur so kann rationalisiert werden, was in der Regel bei irgendeiner Wirtschaft gut ankommt.

Nach diesem Exkurs zurück in die Berge. Die Wege, die hier Flure sind, bestechen durch spartanische Schönheit. Zur Orientierung hängt hin und wieder ein Berlinplan an der Wand. Die erste Rast wird bei Herrn Pinter gemacht. In seinem Domizil gilt die Geometrie. Überall liegen Karten der Stadt in unterschiedlichsten Farben. Wahlkreisbestimmung ist sein Metier. Pläne für Wählerwanderungen werden erstellt. Das Amt weiß, was es dem Flaneur schuldig ist.

Die nächste Sehenswürdigkeit auf der Tour führt in eine kleine automatische Manufaktur. Ein Wunderwerk der Technik ist dort am Werk: Der Belegleser. Eine Maschine ersetzt hundert Augen und Hände. Voll Stolz wird sie präsentiert. Ein Stapel Formulare wird eingeführt, ein Knopf wird gedrückt, es rattert und zischt. Am Ende zeigt der Belegleser, mit welchem Gesudel er hadert. Eine Dame zum Korrigieren wird noch gebraucht. 530.000 Belege wurden damit letztes Jahr erfasst. 1,3 Millionen Datensätze und 100 Millionen Zeichen. Die „Ahs“ der Bewunderung kommen von Herzen.

Höhepunkt der Besichtigung ist ein Besuch bei Horst Schmollingen, einem Manager in mittlerer Höhe. Vom Bürofenster aus sind andere Dreißigmeter-Häuser zu sehen. Anstatt Karten hängen Berlinpanoramen an der Wand. Selbstredend geht es um Abgründe hier im Gespräch und was immer behauptet wird, dass eine Schweiz reich sei, wird gern widerlegt. Das Statistische Landesamt in Berlin fühlt sich unterversorgt im Vergleich zu Brandenburg, Bremen und Hamburg. Der Jubilar, der in all den vorangegangen Jahren gut kalkuliert, solide geplant und redlich gespart hat, sieht seine Kapazitäten gefährdet.

Nach diesem Vortrag wird zum geselligen Teil übergegangen. Von Bergen wird erzählt, die erklommen wurden, von Kluften, Kratern und Höllen aus Gestein. Bei so viel elegischer Flurwanderung beginnt der Magen zu knurren. Als Wegzehrung wird kein Apfel mit Pfeil gereicht, wohl aber ein Müsliriegel von Nestlé. WALTRAUD SCHWAB