Die Stunde der langen Schatten

Mobile Partnersuche in Teheran, Wasserpfeifen mit Erdbeergeschmack in Tabriz, luftige Ruhe am Persischen Golf und gespaltene Heiligkeit der Pilgerstadt Maschad: Eine Reise quer durch den Iran, ein Land auf dem Weg in seine zweite Moderne

von RICHARD FRAUNBERGER

Wenn am Donnerstagabend das Wochenende beginnt, rollt die Brautschau im Schritttempo. Dariush lehnt sich aus dem Autofenster, fährt auf Augenhöhe auf. Wir haben nicht viel Zeit. Er muss den Augenkontakt schnell herstellen, bevor der Zementmischer die Sicht versperrt. Rasch lächelt er hofierend. Die Mädchen im anderen Auto bleiben regungslos, nur eine grinst zurück. Dariush kehrt um, sucht nun die Favoritinnen des Abends: zwei Mädchen im Renault, die blondierte Haarsträhnen unter dem Kopftuch hervorlugen lassen. Wir gehen leer aus. Die Visitenkarte mit der Handynummer bleibt liegen.

Weil es an Möglichkeiten zur Partnersuche in Teheran mangelt, hat sich eine mobile Kontaktbörse in der Jordan Street entwickelt. In jenem Land, in dem fast alles verboten ist und fast alle Verbote umgangen werden. Denn Verbote spornen an. Wie anders dieses Land ist, begreift man schnell. Aber wie wenig der Iran mit der üblichen Vorstellung vom Iran zu tun hat, lernt man erst im Lauf der Zeit. Das Land verstört, wühlt auf, erheitert und lässt so schnell nicht mehr los. Vor allem seine Bewohner.

In Tabriz, der Hauptstadt der Provinz Aserbaidschan, hält mich nachts in klirrender Kälte ein Familienvater auf offener Straße an. „Bitte sprechen Sie mit meiner Tochter“, sagt er. Ich schaue verdutzt, bin ich doch eigentlich in einer Welt, in der auf strikte Geschlechtertrennung geachtet wird und es nicht üblich ist, mit einem verschleierten Mädchen auf offener Straße zu sprechen. Das macht den Leuten deutlich, wie sehr das Land abgeschottet ist und gibt das allgegenwärtige Gefühl, der Welt Jahrhunderte hinterherzuhinken. Nach fünf Minuten nickt der Vater zufrieden. Die Mutter reicht zum Abschied Kekse.

Bundesliga gegen Imame

Am Freitag ist Feiertag. Auch wenn die Religion das öffentliche Leben bestimmt, füllen sich nicht Moscheen, sondern Parks, Wanderwege und abends die Sauna. Die Sanduhr wird umgedreht, ein Mann tritt in die heiße Stube, schwingt das Handtuch wie ein Cowboy. Wir leiden Höllenqualen. Alle applaudieren, der Mann verbeugt sich und geht ab. Dann klopft es an der Tür. Die Bundesliga hat begonnen. Man lernt schneller die Namen der Spieler als die der zwölf Imame.

Aus einer anderen Epoche ist der Basar. 7.350 Geschäfte, 24 ehemalige Karawansereien – schwer, sich im fast vier Kilometer langen, kuppelüberdachten Labyrinth nicht zu verlieren. An einer Ecke, hinter einem Stoffladen, gluckert es, als befände man sich unter Wasser. Auf niedrigen Tischbänken reihen sich Teegläser und Wasserpfeifen, die Kalyans, an denen dicht gedrängt ein Dutzend Männer unablässig zieht. Ich bestelle Erdbeere, den besten Tabak, wie mir ein Mann versichert. Schon bemerkenswert, wie er es fertig bringt, diesen Satz zu sagen, ohne das Mundstück abzusetzen. Wie angeschlossen an der Blubbermaschine pafft er und kritzelt in seinem Kreuzworträtsel. Wohlige Wärme macht sich breit, glühende Kohlensplitter stieben aus dem Ofen, eine Oase für hundert Züge. Unterbrochen nur von einem Rätsel, einem Mann, der mich schweigend auf die Wangen küsst, bevor er wieder um die Ecke biegt.

Nach dreißig Minuten Kalyan schnappt die Teppichfalle zu. Kein Basar, ohne naiv einem Jungen hinterherzulaufen, der den Ausgang zu zeigen verspricht. Natürlich lande ich bei Tee und ausgerollten Teppichen. Als klar wird, dass ich keinen Platz für sechs Quadratmeter geknüpfte Wolle habe, kramt der Händler handgewebte Mauspads und Handyunterlagen hervor.

Draußen, am Bagh-e Golestan, findet mich Aydin. Er reißt die Tür seines Pekans auf und fordert mich auf, Platz zu nehmen. Der Pekan, ein Replikat des britischen Hillman Hunters, ist Irans omnipräsentes Auto. Auf den großen Straßen, der Emam-Khomeini-, Valiasr-, Schariati- und Taleqani-Allee, wimmelt es von zu Sammeltaxis umfunktionierten privaten Pekans. Eigentlich will Aydin nicht fahren, sondern erzählen. Davon, was ich noch etliche Mal hören werde: dass er keine Arbeit findet, deshalb nicht heiraten kann, dass Mullahs sich bereichern, er wegwill, kurz, dass die stellvertretende Herrschaft Gottes auf Erden zu wirtschaftlichem Zusammenbruch und Korruption führt und Land und Gesellschaft in eine noch tiefere Krise stürzt. Absurd, dass es der Herrschaft der Mullahs bedarf, den Glauben nachhaltig zu demolieren.

Überraschend auch die spürbare heimliche Bewunderung für die USA. In einer Saftbar treffe ich Ali im üblichen Schick der Islamischen Republik: grauer Anzug, Hemd ohne Krawatte, Stoppelbart. Etwas kokett, aber virtuos imitiert er – ich darf Bundesstaaten wählen – amerikanische Akzente. Später erzählt er eifrig aus dem Leben des dritten Imams, eilt aus dem Restaurant und bereichert mich mit dem Koran.

Einschüchternde Leere

Ein besseres Buch hätte ich nicht finden können. Busreisen beginnen oft mit einem Stoßgebet. Mut machende Worte für bange Stunden, vor allem dann, wenn man die Teheran Times liest, der zufolge es im Dreiviertelstundentakt einen Verkehrstoten gibt. Verstünde ich die Worte, mit denen die Passagiere auf das knappe Stoßgebet des Busfahrers antworten, ich riefe mit.

Von Tabriz bis nach Takap ist es wie im Kino. Nur echt und greifbar und erstaunlicher. Die Erde brennend rot, die Berge zerknitterte Tücher, ein Junge, der auf einem Esel galoppiert, eine Leere, die einschüchtert, im Sand betende Lkw-Fahrer und das unauslöschliche Bild eines Mannes, der an einer verlassenen Kreuzung im Licht der späten Sonne Reifen wechselt.

Es ist die Stunde der langen Schatten. Wenn Strommasten wachsen, Büsche sich verdoppeln, Berge Falten werfen und man beim nächsten Teestopp über die wunderliche Länge seiner Beine in Verzückung gerät. Dann möchte man nicht mehr einsteigen, sondern den Augenblick festhalten, sich wortlos an den Straßenrand setzen und einen Himmel anstaunen, den es so woanders nicht gibt.

Ist die Nacht angebrochen, muss man sich sputen, Kebab oder Abguscht aufzutreiben. Irans Nächte sind kurz. In Takap ist man bereits auf dem Nachhauseweg, Rollläden knallen herunter. Ich habe Glück, finde Akbar, den guten Mensch von Takap. Immer im richtigen Augenblick schaut er plötzlich besorgt, als kippe ich gleich vom Stuhl, rennt zum Samowar in die Ecke seiner Pension und sorgt für Nachschub. Und weil er es gut mit mir meint, bietet er beiläufig eine Flasche Whiskey an, als handle es sich ums Nationalgetränk. Ich verzichte, trotz seiner Zusicherung, der Polizist Takaps – als gäbe es nur einen hier! – stehe zu ihm in freundschaftlicher Beziehung.

Vielleicht begreift man ein Land am besten zu Fuß. Am nächsten Tag steige ich aus dem Bus, will nicht mehr behütet durch die Landschaft fahren. Gehen tut den Augen gut: Ein Hirte am Feuer. Ein Greis, der mir die Hand reicht. Mädchen, die auf Kanister und Baumstamm schaukeln. Rote Eimer zwischen Apfelbäumen. Männer, die Äpfel pflücken. Hinter einem Dorf warten ein Alter und ich auf ein Auto. Warten schmiedet zusammen. Mit fünf Wörtern und vier Händen versuchen wir aus unseren Leben zu erzählen. Irgendwann wird klar, dass keiner ohne den anderen fährt. Erst als ein Lkw uns beide mitnehmen will, steigen wir ein.

Dann der Persische Golf, scheu und weltfremd. Erschöpft von der Gluthitze des Sommers, liegt er staubig und müde da. Vom Schatt-el Arab bis nach Belutschistan brennt und dampft monatelang der Süden. In der Hafenstadt Bushehr wird es dann so gemütlich wie in einer Plastiktüte, in der man eingeschweißt in der prallen Sonne liegt. Wer hier tagsüber ankommt, findet eine Geisterstadt vor: Leere Straßen, verbarrikadierte Geschäfte, nicht einmal ein dösender Taxifahrer zeigt Interesse, zu matt, um auch nur die Hand zu heben. Jede Neugierde erlischt. Lethargie tropft aus den Poren. Wenn nach fünf Stunden die Sonne etwas barmherziger wird, belebt sich die Stadt wieder, liegen Bananen, Socken, Wecker und Feuerzeuge zum Verkauf auf den Gehwegen.

Am Persischen Golf

Unentschlossen mustert mich ein Hotelboss in Bushehr, als wisse er nichts mit einem Reisenden mit Koffer anzufangen, und schickt mich zur Polizei. Dort erhalte ich gegen Vorlage des Reisepasses eine Unbedenklichkeitserklärung. Erst jetzt darf ich ein Zimmer beziehen. Glanzlos versinkt eine halbe Stunde später die Sonne über dem Persischen Golf im Dunst und mit ihr jegliche Aussicht auf etwas Strandidylle. Die angespülten Plastikfetzen und Holzstücke sind von den glitschigen Muschelschalen und algenüberwachsenen Quadersteinen am Kai bald nicht mehr zu unterscheiden. Der Persische Golf, so werde ich auf den nächsten 800 Küstenkilometern lernen, hat ausschließlich praktische Funktion. Wen wundert’s?

Mehr als die Hälfte der bekannten Erdölvorkommen der Welt befinden sich im Persischen Golf. Über eine Million Tonnen Rohöl sind während der Golfkriege ins Meer geflossen. Und Öl fließt noch immer. Erst kürzlich fand man den Tanker Eikal steuerlos im Meer treiben. Die Mannschaft hatte versucht, das gegen den Irak verhängte UN-Embargo zu umgehen, sich dann aber aus Angst vor anrückenden Patrouillen über Bord gemacht.

Jahrhundertelang war der Persische Golf ein Tor zur Arabischen Halbinsel, zu Indien, China, Afrika und Europa. Geblieben sind aus dieser Epoche Nachfahren von Arabern, Indern, Belutschen, schwarzen Sklaven aus Sansibar und der sunnitische Glaube im schiitischen Iran.

Seltsam scheu verstecken sich nun Landschaften und Menschen vor der Welt. Jagte bisweilen auf den Straßen von Schiras eine Begegnung die nächste, bleibt fast jede Annäherung jetzt zögerlich und stumm, als seien die unbändige Neugier und Aufgeschlossenheit der Iraner verglüht. Die bis zur Gehirnwäsche wiederholten Nationalinteressen – Bekämpfung des „großen Satans“, uneingeschränkte Unterstützung für die Palästinenser – verpuffen schnell an den Gestaden des Persischen Golfs, wo Kescher mehr Fische bringen als Slogans. Palmen liegen unter einer feinen Staubschicht, und Erde, Felsen und Meer glimmern in müden, ausgeblichenen Farben.

Am Strand in einem Dorf bei Bandar-é Langeh biegen zwei Fischer schweigend Draht zu Reusen, Männer ziehen ein Holzboot und ein paar Kilo Fisch an Land, Ziegen drängen sich in den Schatten einer Mauer. Eine Plastiktüte treibt im Wind. Ungläubig schaut ein Junge aus dem Fenster des einzigen Dorfladens. Eine Ziege meckert. Die Welt hat viele Enden, eins liegt hier.

Keine Stadt ohne Park

Wenn jene Dämmerung einsetzt, in der das Meer vom Horizont kaum unterscheidbar ist, trifft sich Bandar-é Langeh zum Nationalsport, dem Spazierengehen im Park. Popcorn- und Eisverkäufer haben Stellung bezogen, Kinder schaukeln, Familien gehen auf und ab und ein paar Jungs sitzen Kürbiskerne knackend auf Parkbanklehnen. Keine Stadt im Iran ohne Park. Er ist einer der wenigen „Amüsements“ im sittenstrengen Mullahland.

Mit dem letzten Dämmerlicht finde ich am Strand das Sinnbild, nach dem ich lange suchte: Drei Frauen sitzen im Sand, regungslos, in Tschadors vermummt, den Blick aufs Meer gerichtet, dem Land den Rücken zugekehrt – weltabgewandt wie der Süden.

In Bandar-é Abbas, 260 Kilometer östlich, schlägt der gewohnte iranische Puls. Hier muss man wieder im Schweinsgalopp die Straße überqueren oder sich im Sammeltaxi, die Handbremse halb im Hintern, den Beifahrersitz mit anderen teilen. Die Hafenstadt ist die größte Irans, ein expandierender Betonmoloch, übereilt gewachsen durch den an der Westküste acht Jahre andauernden Bombenhagel des Golfkriegs.

Mit dem Hafen wächst auch der Schmuggel. Wer die Stadt verlässt, muss damit rechnen, sein Auto an einem Checkpoint in Einzelteile zerlegen zu müssen. Dank der Nähe zu den Vereinigten Arabischen Emiraten gibt es Alkohol, Videos und Satellitenschüsseln etwas günstiger als im Rest des Landes. Im Basar findet das lifestylegewohnte Herz neben Bananen und Batterien Kirschsaft in Designerverpackungen und chromfarbene Deodorantdosen. Aber es sind eher die Bananen und Batterien, die gekauft werden, bevor die Boote am Hafen ablegen.

Mit Säcken und Körben beladene Frauen und Männer sitzen am Kai und warten auf Motorboote nach Hormus, Qeshm, Larak, den umliegenden Inseln in der Straße von Hormus. Und zum ersten Mal seit einem Dorf in Aserbaidschan sehe ich Frauen, die Rot, Grün, Blau und Gelb tragen und staune irritiert über die Farben, die im iranischen Alltag in Vergessenheit geraten. Nicht die Tschadors oder Turbane sind bunt, sondern die Gesichtsmasken der Frauen, die das verstecken, was Kleider nicht verbergen. Nur die Augen schauen aus den gestickten Baumwollmasken, die nicht die religiöse Bedeutung der Burkas afghanischer Frauen haben. Die Maske verschönt, erhebt, ist seit Jahrhunderten Modeaccessoire in einem Land, das vor zwanzig Jahren Lippenstift und Nagellack abgeschafft hat. Drüben auf der Insel Hormus rauchen dann die Frauen Kalyans, sind Herren über Markt und Haushalt, kichern und tauschen neugierig Wortfetzen mit dem Fremden aus. Nur eine Frau, maskenlos, will mich steinigen, als ich sie im Sucher der Kamera anpeile.

Auf der Insel

Die Insel ist einer der luftigsten Orte Irans. Die Schwere des Herzens wird leichter. Keine wuchtige Emam-Khomeini-Allee, kein Kreisverkehr, keine revolutionäre Wortakrobatik. Männer flicken schweigsam Netze. Von irgendwo weht Marihuanarauch.

In Bandar-é Abbas dann wieder der Dampf. Vergeblich versuchen die tropfenden Air-Conditioner, das Leben abzukühlen. Die wahre Klimaanlage kommt allerdings mit Sonnenuntergang in Gang, wenn sich Basare und Straßen wieder füllen und Fotografen ihr Atelier, Leinwand und Kamera, am Strand aufbauen. Für fünftausend Rial kann man sich vor künstlicher Blumenwand verewigen lassen. Gleich neben dem Trottoir werden mobile Teestuben auf ausgerollten Plastikplanen und Teppichen auf dem Boden aufgebaut. Fleischspieße werden gerichtet, Tee wird gekocht. Kalyans und Samoware reflektieren rote Sonnenstrahlen. Genau jetzt, auf einer Plastikmatte sitzend, zu Füßen vorbeieilender Passanten, fallen auf uns Schatten wie lang gezogene Streichhölzer.

„Um in einer fremdartigen Stadt vertraut zu werden, braucht man einen abgeschlossenen Raum“, schrieb Elias Canetti. Das gilt besonders für Maschad, die heiligste Stadt Irans, im Nordosten des Landes, die wie keine andere verwirrt und davon zeugt, wie sich eine Nation in ihrem gespalteten Dasein eingerichtet hat. Gehören coole Trendcafés, Poolbillards, schicke Manteaus und enge Jeans fast schon zum Nordteheraner Stadtbild, so sind es in Maschad wallende Talare, schwarze Tschadors, verschleierte Gesichter und ehrfürchtige Pilger. Zwei Alltage auf den Straßen Irans.

Zwölf Millionen Pilger kommen jedes Jahr an den „Ort des Martyriums“, in dem Reza, der achte Imam, begraben liegt. Gesäumt von Devotionalienläden und Fotostudios, führen vier Straßen wie ein Fadenkreuz auf den Schrein zu. Weil Kameras verboten sind, boomt die himmlische Retusche. Nach einem Porträt im Studio wird das Foto des Pilgers, je nach dessen religiösem Eifer, in unterschiedliche Bildecken montiert: vor das Grab Rezas, unterhalb der goldenen Kuppeln oder im Vorhof, neben aufgeklebten Rehen.

Im Schrein herrscht emsige Frömmigkeit. Pilger küssen Türen, berühren Wände, murmeln sitzend Worte. Mit einem Staubwedel weisen Aufseher Plätze auf Gebetsteppichen zu. Erst am Sarkophag Rezas wird das eigentliche Anliegen der Schiiten deutlich: Weinen, Klagen, Trauern. Ekstatisch schubsen sich Männer durch das wilde Gedränge ans Grab, um es dann aufgelöst zu berühren. Schluchzen und laute Erregung füllen den spiegelverkleideten Innenraum.

Keiner hat die Klagereligion der Schiiten so poetisch verdichtet beschrieben wie die Araber: „Rührend wie die schiitische Träne.“ Aber wenn auch die Verehrung der Märtyrer eine der Konstanten des schiitischen Islam ist und tief bis in die heutige Politik hineinragt, kann die junge Generation der Lust am Jenseits immer weniger abgewinnen. Sogar in Maschad ist man mehr um das Abschneiden der Nationalelf im Qualifikationsspiel für die kommende Fußballweltmeisterschaft besorgt als um die Wiederkehr Mahdis, des letzten Imams.

Die schiitische Träne

Nicht Islamisierung, sondern Säkularisierung ist die vorherrschende Tendenz. Da erscheint Bruce Chatwins Bemerkung – in „Wehklage um Afghanistan“ – über Maschads vermeintlichen Fanatismus eher wie ein paradoxes Relikt. Nicht die Mullahs regierten damals das Land, sondern der Schah. Und dass man in Maschad nicht nur Erregungen religiöser Art empfindet, sondern nebenbei auch Bordelle blühen und regelmäßig Razzien stattfinden, ist lokalen Tageszeitungen zu entnehmen.

Vergebens sucht man das orientalische Märchenland aus Tausendundeiner Nacht. Irans Gesicht ist modern, aus Beton und Stahl, und erinnert stets daran, mit welchem Tempo Schah Mohammed Reza Pahlevi das Land ins übernächste Jahrhundert zu katapultieren versuchte. Die Revolution erwischte das Land mitten in seiner Neuerschaffung. Noch heute wirkt es mancherorts seltsam unaufgeräumt.

Nicht so auf dem umwerfenden Meidan-e-Imam-Platz in Isfahan, den ich jeden Tag zweimal überqueren muss. Die Moschee, die Iwane, die überfließenden Arabesken, das Blau der Kacheln, die doppelgeschossigen Arkaden, die rührenden Schulkinder. Und zehn Minuten lang ein „Star“ sein, Autogramme geben, Fragen beantworten, bis die Kinder winken und gute Reise wünschen. Viele Reisende gibt es aber nicht. In fünf Tagen zähle ich 30 Ausländer in Isfahan. Die Basaris schütteln die Köpfe, das Werben der Souvenirverkäufer läuft ins Leere. Wen wundert’s? Seit den Terroranschlägen am 11. September haben 90 Prozent aller organisierten Gruppen ihre Reise in den Iran abgesagt. Persepolis, Pasargadae, Naghsh-e-Rostam sind menschenleer. Dabei ist von den Ereignissen im Nachbarland nichts zu spüren.

In keinem anderen muslimischen Land wurden, unmittelbar nach den Terrorattacken in den USA, Kerzen als Solidaritätsbekundung angezündet. Hier ist Bin Laden kein Welterretter mit Knarre. Ebenso überraschend die überall kursierenden Taliban-Witze, die Verachtung für die bärtigen Gottesmänner und ihrer rigoros verordnete Ignoranz. Der Iran blickt auf eine 2.500 Jahre alte, mythenreiche Nationalgeschichte zurück. Fremde Identifikationsfiguren haben keinen Platz, hier hat man genügend eigene Helden.

Einem begegne ich an der 33-Bogen-Brücke: Mohammad, der Verssüchtige, der dem propagierten Gottesstaat seine Ledertasche entgegenhält. Er zieht daraus einen Stapel loser Blätter und liest Gedichte, wahllos, fiebernd, sprudelnd. Von Fenstern mit Seele, Äpfeln der Liebe. Da ich noch immer nicht verstehe, führt er mich durch das staubige und ausgetrocknete Flussbett des Zayandeh zur Ferdosi-Brücke. Unter einem Bogen stehen Männer im Dunkeln und klatschen leise im Rhythmus. Trotz Verbots singt ein alter Mann Ferdosi-Texte. Und wie er singt! Als sähe er das Glück mit seinen geschlossenen Augen. Die Handflächen dem Nachthimmel geöffnet, das Gesicht lächelnd, irgendwo zwischen Versenkung und freudiger Erregung. Kaum endet er, setzt ein anderer ein. So stehen wir da, lauschen, sehen nur unsere Schatten im schwachen Schein der Stadtlichter. „Das“, sagt Mohammad, „ist der Iran.“

Literatur: Ryszard Kapuscinski: „Schah-in-Schah“. Eichborn Verlag; Rudolph Chimelli: „Iranische Notizen“. Picus Verlag; Navid Kermani: „Iran. Die Kinder der Revolution“. Verlag C. H. Beck; Robert Byron: „The Road to Oxiana“. Oxford University Press; V. S. Naipaul: „Eine islamische Reise“. dtv; Pierre Loti: „Nach Isfahan“. Manholt Verlag