Selbstmord beim Verhör in Paris

Der Attentäter von Nanterre stürzt sich im Polizeihauptquartier in Anwesenheit von zwei Beamten aus dem Fenster. Opfer und Angehörige sind empört, die Politiker betreiben Wahlkampf und schlachten die Tat und den Selbstmord politisch aus

aus Paris DOROTHEA HAHN

Es war ein angekündigter Selbstmord. Er fand statt unter den Augen von zwei Polizisten. In Büro 405 im vierten Stock des Pariser Polizeihauptquartiers griffen sie nach den Füßen von Richard Durn, der ihnen eben noch im Verhör gegenüber gesessen hatte. Doch der hing bereits mit zwei Dritteln seines ein Meter achtzig langen Körpers draußen, auf dem Dach, rund 20 Meter über dem gepflasterten Innenhof, wo er Bruchteile von Sekunden später aufschlagen sollte. Die Polizisten, die dem erklärten Selbstmordkandidaten zwar die Schnürsenkel abgenommen, jedoch nicht das Klappfenster ihres Büros verriegelt hatten, behielten einen Schuh zurück.

So endete am Donnerstag Morgen um 10 Uhr 15 das Leben von Richard Durn. Dem Mann, der einen Tag zuvor eines der größten Massaker der französischen Nachkriegsgeschichte angerichtet hatte. Der Franzose, der vor 33 Jahren in Nanterre zur Welt gekommen war, hatte eine Ratssitzung in der westlich von Paris gelegenen Vorstadt aus dem Publikum verfolgt. Am Ende der Sitzung um 1 Uhr 11 in der Nacht war er aufgestanden, hatte seine Pistolen gezückt und mehr als 40 Schüsse abgegeben. Er ermordete acht Ratsfrauen und -herren und verletzte 19 weitere. Erst dann gelang es einigen Lokalpolitikern, den Schützen in ihre Gewalt zu bringen.

Einen Prozess gegen Durn wird es nie geben. Der Mann, der als die ultimative Absicht seiner Tat seinen eigenen Tod genannt hatte – und der dies schriftlich und mündlich getan hatte – ist an seinem Ziel angekommen. „Ich bin im Leben gescheitert. Ich will mich umbringen“, hat er in einem Brief an eine Freundin geschrieben, den er unmittelbar vor seiner Tat abschickte, „aber vorher will ich ein Maximum an Leuten umbringen.“ Er wolle, so schrieb er, „auf der Höhe von Bin Laden, Hitler, Stalin, Pol Pot und Milošević sein“.

In Nanterre, wo das Massaker vier KommunistInnen, einen Grünen und drei Konservative das Leben kostete, versetzte dieser Selbstmord den Opfern und ihren Angehörigen einen zusätzlichen Schlag. Die kommunistische Bürgermeisterin Jacqueline Fraysse, die die 100.000 Einwohnerstadt seit 1988 regiert, bezeichnet sich als „entsetzt“. In den Stunden nach dem Massaker hatte Fraysse nur technische Beschreibungen abgegeben. Wie auch die anderen Überlebenden der Tat vermied sie jede emotionale Stellungnahme sowie jedwedes Urteil über den Schützen.

Nach dem Selbstmord unter Polizeiaufsicht schlägt Fraysse jetzt einen anderen Ton an. Sie spricht ihr „Entsetzen“ aus, erinnert daran, dass ihre Kollegen den Schützen „unter Einsatz ihres Lebens festgehalten haben“ und nennt dessen Sprung aus dem Fenster des Polizeihauptquartiers „unerklärlich“ und „unentschuldbar“.

Der sozialdemokratische Innenminister Daniel Vaillant kündigte nach Bekanntwerden des Selbstmords eine polizeiliche und juristische Ermittlung an. Gegen etwaige Verantwortliche werde es, so versprach Vaillant, „Sanktionen“ geben. Doch mitten im Wahlkampf genügt dies vielen Politikern nicht. Sie sind dabei, die Tat und den Selbstmord politisch auszuschlachten.

Der Erste, der das tat, war Staatspräsident und Präsidentschaftskandidat Jacques Chirac. Er stellte das Massaker noch in derselben Nacht in einen Zusammenhang mit der allgemeinen Unsicherheit in Frankreich. Seither hat er das „Fehlfunktionieren in Regierung und Polizei“ auch im Fernsehen und bei einem Meeting ausgeschlachtet. Seine Freunde verlangen inzwischen den Rücktritt von MinisterInnen der rot-rosa-grünen Regierung. Misstöne gibt es auch in den Reaktionen der Grünen, denen der Todesschütze Durn politisch nahestand. So erklärte der Pariser Grünenpolitiker Denis Baupin, seine Partei habe den Schützen deswegen nicht als Mitglied aufgenommen, „weil wir gemerkt haben, dass bei ihm etwas nicht stimmte“.

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