In Ramallah herrschen Unsicherheit und Panik

Die israelische Armee hat Ramallah besetzt, Jassir Arafats Hauptquartier ist umkämpft. Die Einwohner fürchten ums Überleben

„Wenn Arafat weg ist, dann bricht hier das Chaos aus“, meinen Leute im Supermarkt beim letzten Versuch einzukaufen

RAMALLAH taz ■ Schüsse peitschen durch die Straßen Ramallahs. „Warte hier“, ruft es aus einem Hauseingang, „hier bist du sicher.“ Etwa fünfzehn Menschen drängen sich hinter der Tür, nur wenige Meter von einem geöffneten Supermarkt entfernt. Sie wollen die vielleicht letzte Möglichkeit zum Einkaufen nutzen. Als der Schusswechsel für einige Momente aufhört, wird kurz um die Ecke geschaut und unter Lebensgefahr losgerannt.

Israelische Panzer sind um etwa drei Uhr am Freitagmorgen nach Ramallah eingerückt und besetzten innerhalb kurzer Zeit und unter heftigen Feuergefechten fast das gesamte Stadtgebiet. Der Widerstand bewaffneter Palästinenser wurde mit Kanonen- und Maschinengewehrfeuer schnell zurückgedrängt. Fünf Palästinenser und ein Israeli sollen in den ersten Stunden der Besetzung Ramallahs getötet worden sein.

Im Supermarkt sind haltbare Lebensmittel die erste Wahl und jeder kauft noch einmal so viel ein, wie er tragen kann. Die Regale sind allerdings schon fast leergeräumt. Die neuesten Nachrichten werden ausgetauscht. Danach ist am Morgen eine Frau in ihrem Haus von einer israelischen Kugel getötet worden, ihr Mann wurde schwer verletzt. Fünf Palästinenser und ein Israeli sollen in den ersten Stunden der Besetzung Ramallahs getötet worden sein, melden die Agenturen. Aber sicher ist nichts, weil im gesamten Stadtgebiet um neun Uhr morgens der Strom abgestellt worden ist. Die Bewohner können sich deshalb nicht mehr auf das lokale Fernsehen stützen, wie dies bei der ersten Panzerinvasion Mitte März noch der Fall war. Dort wurde regelmäßig über die Positionen der Panzer und Scharfschützen berichtet. Jetzt herrschen Panik und Unsicherheit. Israelische Truppen sind im Stadtgebiet unterwegs. „Wir müssen abwarten, wie sich die Situation entwickelt“, meint einer der Einkäufer im Supermarkt, „aber alle rechnen mit einer langen Besatzung. Wir haben Lebensmittel für etwa eine Woche, und irgendwann wird auch das Gas zum Kochen alle sein. Ich weiß nicht, was dann passiert.“ Gegenüber vom Supermarkt hat sich eine Gruppe von palästinensischen Milizen in einem Garten verschanzt. Einige davon tragen Bandagen, Zeichen des letzten israelischen Angriffs. Seit einer Gewehrsalve aus einem hohen Gebäude ist eine Position israelischer Scharfschützen in der Nähe bekannt. Das Haus der Milizen liegt in direkter Schusslinie. Noch ist es möglich, die Verletzten ins einzige zugängliche Hospital im Stadtzentrum zu bringen, wo die Ärzte mit Notstromaggregaten operieren. Krankenwagen sind ohne Unterbrechung unterwegs. Die Zahl der Verletzten geht demnach bereits in die Dutzende. Gesicherte Angaben sind aus dem Krankenhaus telefonisch noch nicht zu erhalten. Aber an dem Geschrei im Hintergrund ist ersichtlich, dass die Zustände chaotisch sein müssen. Inzwischen hat die israelische Armee eine Ausgangssperre verhängt, das Telefon ist die einzige Informationsquelle. Angehörige aus anderen Stadtteilen oder Orten erkundigen sich besorgt nach dem Wohlbefinden der Bewohner und hoffen auf neue Nachrichten. Für besondere Unsicherheit sorgt die Umzingelung des Hauptquartiers von Präsident Jassir Arafat und die Debatten in der israelischen Regierung, ihn außer Landes zu schaffen oder zu verhaften. „Wenn Arafat weg ist, dann bricht hier das Chaos aus“, so die Meinung. „Arafat ist nicht nur der Landeschef, sondern er hält hier auch alles zusammen. Die Verzweiflung wird sich verstärken, wenn er nicht mehr in Ramallah ist.“ Den israelischen Beteuerungen, die Zivilbevölkerung sei nicht das Ziel der Militäraktion, glaubt in Ramallah niemand. „Die wollen doch, dass hier alles im Chaos versinkt“, so die Meinung im Supermarkt weiter. „Dann können sie hier machen, was sie wollen.“ Die Frage nach Möglichkeiten zur Beilegung der Situation wird deshalb mit Schulterzucken und Flüchen auf Israels Ministerpräsident Ariel Scharon beantwortet. „Wir sagen schon seit Jahrzehnten, dass der Konflikt ein Ende hat, sobald sich Israel aus den besetzten Gebieten zurückzieht. Aber Scharon will ja alles.“ Die Zeit, über langfristige Perspektiven zu reden, hat nun niemand. Vordringlich ist im Moment der sichere Nachhauseweg und die Hoffnung, wenigstens in der eigenen Wohnung sicher zu sein.

PETER SCHÄFER