Den Fortschritt in der Metropole abgeholt

Die selten gezeigten „Pariser Zeichnungen“ von Vincent van Gogh in der Kunsthalle  ■ Von Christian T. Schön

„Denn gerade weil ich jetzt Gelegenheit habe, mit verschiedenen Leuten über meine Zeichnungen zu sprechen, fühle ich selber meine Fehler, und damit ist viel gewonnen – ich kann sie leichter abstellen.“ Der fast 33-jährige Vincent van Gogh schrieb aus Antwerpen diese Worte an seinen Brüder Theo. Er befand sich damals auf dem Sprung nach Paris, in das Zentrum des Impressionismus, und war im Begriff, der akademischen Kunstlehre an der Antwerpener Kunstakademie den Rücken zu kehren.

Van Gogh war damals noch auf der Suche nach einem eigenen Stil, konnte sich mit der akademischen Zeichenlehre aber nicht anfreunden und erhoffte sich Inspiration von der vibrierenden Kunstszene in Paris. Die Hamburger Kunsthalle zeigt mit der aktuellen Ausstellung Die Pariser Zeichnungen van Goghs Entwicklung zwischen 1886 und 1888 in der französischen Künstlerstadt. Zu sehen sind selten gezeigte Zeichnungen, die aufgrund ihrer Lichtempfindlichkeit die meiste Zeit in den Tresoren des Van Gogh Museums in Amsterdam verbringen.

In Paris lernte van Gogh Henri de Toulouse-Lautrec, Paul Signac, Georges Seurat und andere impressionistische Maler kennen. Wechselseitige Atelierbesuche und Künstlergespräche folgten. Er studierte im Atelier von Fernand Cormon und ging selbstständig auf Motivsuche. Neben den heute bekannten Gemälden entstand in Paris jenes Konvolut von 80 teils doppelseitig genutzten Blättern. Insgesamt über einhundert Zeichnungen sind damals entstanden, die van Goghs Werdegang vom akademischen Zeichenstil nach Konturen zu seiner unverkennbaren Parallelschraffur am deutlichsten nachvollziehbar machen.

Motive boten ihm anfangs Szenen aus dem Park – zumal sich van Gogh mit dem Verkauf populärer Motive über Wasser zu halten hoffte. Später folgten Studien von Gipsfiguren und Torsi – denn van Gogh glaubte damals, dass seine technischen Probleme im Figurativen lägen. Schließlich folgten die ersten Experimente mit farbiger Kreide und Aquarell sowie schnelle Bleistiftschraffuren. Die ersten Motive in dieser Technik, die nicht von der Kontur sondern vom Volumen des Körpers ausgeht, waren Stadtansichten, Selbst- und Musikerportraits. Eine Gruppe – Ende 1887 entstanden – sticht in der Hamburger Ausstellung besonders hervor: einige sehr leicht kolorierte Ansichten, die den Einfluss der japanischen Ukiyo-e-Graphik auf van Goghs Kunst verdeutlichen. Auch finden sich hier erste Versuche, Baumkronen, Himmelsflächen und Häuserwände farbig zu schraffieren.

Überhaupt liegen viele Entwicklungsschritte im Detail: Der Schritt von der gedeckten Farbpalette, wie sie 1884 noch die Kartoffelesser kennzeichnet, zur expressionistischen Komplementärfarben-Schlacht ist lediglich in den späten der Pariser Zeichnungen zu erkennen. Doch vielleicht liegt gerade hierin der Reiz der Schau: Viele der Zeichnungen zeugen zwar von Talent und Arbeitswut, aber die Originalität und Reife der folgenden Jahre lassen sie noch nicht erkennen.

Doch die Ausstellung tut, um die sich andeutende Entwicklung zu präsentieren, ihr Möglichstes: In übersichtlichen kleinen Gruppen werden hier die einzelnen Entwicklungsphasen und technischen Experimente van Goghs präsentiert. Freistehende Wände, durch die man sich labyrinthisch bewegt wie van Gogh durch seinen zweijährigen Entwicklungsprozess, und die raffinierte Hängetechnik ermöglichen den Blick auch auf die doppelseitigen Blätter. Der enorme Arbeitseifer van Goghs spiegelt sich zudem im spontanen Skizzencharakter der kleinen Formate und in den oft gefalteten und mehrfach genutzten Blätter.

Neben einigen karikaturhaften Zeichnungen wie Frau, die mit ihrem Hund spazieren geht und Venus in einem Zylinder sorgt die Hängung dieser oft mit mehreren Zeichnungen versehenen Blätter auch für unverhoffte Komik, die die sehr wissenschaftlich geprägte Methodik der niederländischen Ausstellungsmacher vom Van Gogh Museum Amsterdam etwas auflockert: So scheint das Mädchen in den Studien eines sitzenden Mädchens in vier Zeichnungen einen Purzelbaum in der Luft zu schlagen, und der eine oder andere Torso steht quer zur Senkrechten. „Paris ist Paris. Was sich hier erreichen lässt, das ist Fortschritt, und was zum Teufel das auch sein mag, der ist hier zu finden.“

Trotz dieser euphorischen Äußerung von 1886 brach van Gogh im Februar 1888 in das südfranzösische Arles auf, wo er in den letzten zwei Jahren seines Lebens seine Hauptwerke schuf. Den „Fortschritt“, die Entwicklung der Schraffur- und Strichzeichnung, nahm er mit und setzte ihn in Farbe um.

Vincent van Gogh – Die Pariser Zeichnungen. Hamburger Kunsthalle; Di–So 10–18 Uhr, Do bis 21 Uhr; bis 9. Juni. Katalog 23 Euro