berliner szenen Der Backgammonspieler

T., ein Leben

T. war erheblich älter als die meisten anderen Erstsemester im Studiengang Politologie. Ein stiller hoch gewachsener Mann, der seine Schüchternheit mit der Wahl exzentrischer Brillen zu kompensieren suchte. Fremden gegenüber schwieg er meistens. Hatte er sich allerdings einmal ans Sprechen gewöhnt, geriet er nicht selten in einen seltsam haspelnden Redefluss; ein Strom von abgerissenen Worten und Endungen, als sei T. von der Angst getrieben, seine Sätze könnten in ganzer Länge nicht genug Platz finden in der Welt.

Das Studium brach T. ab. Nach einigen unbefriedigenden Seminaren schien ihm dieser Entschluss das Beste zu sein. Das Studieren an einer Massenuniversität hatte seine depressiven Neigungen zu sehr verstärkt. T. fing an, bei der Post als Sortierer zu arbeiten. Er verdiene dort gutes Geld, erklärte er heiter, wenn man ihn jetzt traf, mehr als genug sogar. Seine Freizeit verbrachte T. nun zunehmend mit Backgammonspielen. Für andere Dinge fehlten ihm sowohl die Lust als auch die Konzentration. Man konnte sich eigentlich nur noch zum Backgammonspielen mit ihm verabreden. Eine kribbelige Versessenheit, die sich zur Meisterschaft auswuchs. Ein Jahr später trainierte T. schon für Wettkämpfe. Bald wurde er deutscher Backgammonchampion. Nach diesem Höhepunkt ist der Kontakt zu T. abgebrochen. Von Freunden, die ihn besser kannten, hieß es später, er sei schwermütig geworden, verlasse die Wohnung nicht mehr, melde sich nicht. Bei der Post arbeite er seit Jahren nicht mehr. Das Letzte, was man von T. gehört hat, ist lange her. Vorübergehend soll er als Redakteur bei einer Backgammonzeitung gearbeitet haben, sagt ein Bekannter. Aber diese Information ist auch schon sehr alt.

KIRSTEN KÜPPERS